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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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vorausgegangen. Was war es, das sie zurückschrecken ließ? Er wusste, dass sie die Gabe der Vorsehung hatte. Hatte sie etwa in die Zukunft geblickt? Er wollte sie schon danach fragen, besann sich dann aber eines Besseren. Es war gefährlich, sie mit Fragen zu belästigen, wenn sie in diesem Zustand war. Gefährlich für ihn, gefährlich aber auch für das Gelingen der Anrufung. »Gut.«
    Zu einer längeren Erwiderung konnte er sich nicht durchringen. Er ließ sich ihr gegenüber auf der anderen Seite des Feuers nieder. Die Flammen waren mittlerweile in sich zusammengefallen und hatten einen Haufen roter Glut zurückgelassen. Hitze stieg empor. Der Mann merkte, wie ihm unter seiner Kleidung der Schweiß ausbrach. Die Seherin griff in eine der Schalen zu ihrer Rechten, nahm eine Handvoll Pulver und warf es in die Glut. Ein bläulicher Flammenstoß schoss empor, dann eine Wolke von betäubendem Geruch. Mit weit ausholenden Armbewegungen verteilte sie den Dampf, während sie uralte Beschwörungsformeln rezitierte. Der Mann fühlte, wie ihm der Geruch zu Kopf stieg. Nicht nur der Geruch der Kräuter, auch der ihrer Körper. Mit einem Mal schien sich die Fähigkeit seiner Nase um das Tausendfache gesteigert zu haben. Er wusste, dass die Zutaten, die während der Anrufung verwendet wurden, bewusstseinsverändernde Substanzen enthielten. Trotzdem war er jedes Mal aufs Neue von ihrer Wirkung fasziniert. Er atmete tief ein und ließ die Droge auf sich wirken.
    Die Seherin wiederholte den Vorgang mit einem anderen Pulver. Diesmal leuchtete die Flamme in einem kränklichen Gelb, ehe sie in ein Grün umschlug. Der Gestank war atemberaubend. Der Mann konnte nur mit Mühe einen Hustenanfall unterdrücken. Tränen schössen ihm in die Augen. Ein stechender Schmerz breitete sich in seiner Lunge aus. Eine riesige Hand schien seinen Brustkorb zusammenzuquetschen. Für einen Moment lang glaubte er, er müsse ersticken - was, wenn man es genau betrachtete, auch beabsichtigt war. Dieser Teil der Anrufung war der schwerste. Er wurde der schwarze Tod genannt, ein Ausdruck, der eigentlich alles sagte. Es ging darum, zu sterben, wenn auch nur im Geiste. Ein Vorgang, der es dem Sterbenden ermöglichte, mit der Unterwelt in Kontakt zu treten. Keuchend und nach Luft ringend saß er da, hoffend, flehend, dass der Augenblick bald vorübergehen möge. Der Seherin schien es nicht besserzugehen. Tränen strömten aus ihren Augen, verwischten die Farbe auf ihrem Gesicht und ließen sie in Schlieren über ihre Wangen rinnen. Sie griff sich an den Hals, während sie nach Atem rang. Ihre Haut glänzte fiebrig im Schein des Feuers. Mit übermenschlicher Anstrengung und scheinbar unter großen Schmerzen ergriff sie eine weitere Schale und schleuderte ihren Inhalt in die Glut. Dabei stieß sie einen Schrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Es gab eine Explosion aus roter Helligkeit, dann wurde es dunkel. Sämtliche Lichter bis auf die glühende Holzkohle verloschen.
    Der Mann richtete sich auf. Der Schmerz war verschwunden, so als habe es ihn nie gegeben. Was blieb, war ein Zustand innerer Kälte. Oder war es um ihn herum tatsächlich kälter geworden? Sein Atem ging stoßweise. Vor dem schwachen Widerschein der Holzkohle bemerkte er, dass sich kleine Wolken vor seinem Mund bildeten. Er stutzte. Dann war der Temperatursturz also keine Einbildung? Ratsuchend blickte er zu der Seherin. Sie schien die Veränderung ebenfalls bemerkt zu haben. Im Schein der Kohlen glühte ihr Gesicht vor Erregung.
    In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Ein tiefes Grollen erklang. Der Boden unter ihren Füßen begann sich zu bewegen. Staub rieselte von der Decke, ließ sich als feiner Schleier auf Haut und Haaren nieder. Dem Staub folgten kleine Steine, die sich aus der Höhlendecke lösten und auf sie herabfielen. Schützend hielt der Schamane sich die Hände über den Kopf. Das Grollen schwoll an zu einem Donnern. Es klang, als ob sich tief unter ihren Füßen irgendwo eine Pforte geöffnet hätte. Irgendetwas schien sich Eintritt in die Welt der Lebenden verschaffen zu wollen.
    Hin- und hergerissen zwischen einem Gefühl unbändiger Freude und einem alles verzehrenden Grauen, blickte er sich um. Die Schalen und Krüge in ihren Vertiefungen klirrten, manche von ihnen fielen heraus und zerbrachen beim Auf-schlagen in unzählige Scherben. Geweihe lösten sich von den Wänden und stürzten herab, wobei sie einige der wertvollen

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