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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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gelassen hätte.«
    Michaels Blick drückte pures Entsetzen aus. Aber genau diese Reaktion hatte Hannah bezweckt. Lächelnd fuhr sie fort: »Das Problem ist nur: Wir wissen zwar so gut wie alles über die Scheibe, aber leider so gut wie nichts über die Menschen, die sie hergestellt haben. Darüber etwas herauszufinden, das ist meine Aufgabe und der Grund meines Besuches.« Michael schien seine Überraschung überwunden zu haben. Er war wieder aufgestanden und schulterte seinen Rucksack. »Vielleicht kann ich dir helfen. Ganz bestimmt kann ich das. Du sagst mir, wonach du suchst, und ich führe dich hin.«
    Tief in einer Schlucht am Fuße der Heinrichshöhe, dort, wo der Mischwald aus Buchen und Fichten am dichtesten war, war eine schattenhafte Bewegung zu sehen. Etwas Dunkles regte sich. Etwas, das den Tag mied und die Nacht liebte. Es stand im Begriff, aus seiner Felsspalte zu kriechen. Dass ein Wesen wie dieses zu dieser frühen Morgenstunde noch wach war, hatte einen Grund. Seine feine Nase sandte ihm unmissverständliche Signale. Es konnte jeden Geruch des Waldes identifizieren. Pilze, Beeren, den Modergeruch von verrottendem Holz, den feinen Duft frisch gefallener Blätter, die ätherischen Öle von Harz und Tannennadeln - es war sogar in der Lage, unterschiedliche Tierarten voneinander zu unterscheiden, einzig am Geruch des Blutes. Das von Rehen roch anders als das von Schweinen. Eichhörnchen rochen anders als Mäuse. Lurche rochen überhaupt nicht, und das Blut von Vögeln hatte einen scharfen Unterton. Am besten rochen Kaninchen, weshalb es sie am liebsten fraß. Ihr Fell hatte einen unverwechselbaren Duft nach Erde und Heu. Was gab es Schöneres als ein junges Kaninchen, wenn man Hunger hatte. Und das Wesen hatte immer Hunger. Es war ein Jäger, der sich am Blut seiner Opfer labte. Der Gedanke an eine frisch geöffnete Bauchhöhle und das Geräusch des noch schlagenden Herzens ließ ihm das Wasser im Maul zusammenlaufen. Aber es war kein Kaninchen, was sich da näherte. Der Geruch, der um diese frühe Morgenstunde vom Tal heraufkam, war fremd. Er gehörte nicht hierher.
    Zweibeiner, schoss es dem Wesen durch den Kopf. Nur sie konnten so erbärmlich stinken. Das lag weniger an ihren körpereigenen Düften als an dem Zeug, mit dem sich viele von ihnen einsprühten. Scharfe, alkoholische Essenzen, von denen man Kopfschmerzen bekam. Ausdünstungen in einer Intensität, dass es einem die Eingeweide umdrehen konnte. Nun war es nichts Ungewöhnliches, dass Zweibeiner sich am Brocken herumtrieben. Sie infizierten den Berg wie eine Krankheit, wie ein Schimmelpilz, der sich immer mehr ausbreitete. Ungewöhnlich war nur, dass sie so früh unterwegs waren. Das Wesen richtete sich auf und hielt die Nase in den Wind. Kein Zweifel: Die Eindringlinge kamen näher. Ihr Weg führte sie direkt an seiner Schlafstatt vorbei. Eile war geboten. Es schüttelte sein Fell und schabte sich den Buckel seitlich an der Felswand. Mit den Krallen scharrte es die Reste seines Lagers auf einen Haufen, dann trat es hinaus ans Tageslicht. Der Sonnenaufgang stand unmittelbar bevor, und die Helligkeit stach ihm unangenehm ins Auge. So gut es bei Dunkelheit auch sehen konnte, so empfindlich war es bei Tag. Nur noch eine Stunde, dann würde es hier so hell sein, dass seine Augen ihm unerträgliche Schmerzen bereiten würden. Viel Zeit blieb ihm also nicht.
    Ein paar keuchende Atemzüge, dann machte es sich auf den Weg.
     
     
14
     
    Die Himmelsscheibe von Nebra.« Michael führte Hannah höher und höher den steinigen Pfad hinauf. »Wenn das mal keine Sensation ist. Ich habe mich schon lange gefragt, wann endlich mal jemand auf die Idee kommt, dass die Geschichte der Scheibe etwas mit dem Brocken zu tun haben könnte.«
    »Was sagst du da?«
    Hannah war stehen geblieben und blickte ihren Begleiter verwundert an. Seine letzte Bemerkung war so unvermutet gefallen, dass sie sich ihrer Bedeutung erst langsam bewusst wurde. Michael sprach über etwas, das John und sie nur durch Zufall herausgefunden hatten. Etwas, das so brandneu war, dass es in der Fachpresse noch nie thematisiert worden war. Wie konnte er davon wissen? Schlimmer noch - war ihre Begegnung vor diesem Hintergrund wirklich nur ein Zufall? »Was meinst du damit?«, wiederholte sie ihre Frage. Eine steile Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Michael zuckte die Schultern. »Das liegt doch auf der Hand. Überleg doch mal: Es stand ja überall zu lesen, dass sich die

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