Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
dass ich mein Essen selbst bezahlen darf.« Er sah sie mit großen Augen an, dann lachte er. »Abgemacht.«
    Das Konzert dauerte eine gute Stunde, und als es zu Ende war, fühlte Hannah sich in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Besonders die an- und abschwellenden Kaskaden der Nacht auf dem kahlen Berge von Modest Mussorgski, einer sinfonischen Dichtung über einen Hexensabbat auf dem Blocksberg, gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es war ein finsteres, ein furioses Stück, das einen bleibenden Eindruck hinterließ. Von Stetten schien es ebenso zu ergehen. Während die beiden das flammenhelle Schloss hinter sich ließen und auf das Stadtzentrum zusteuerten, wechselten sie kaum ein Wort. Erst nachdem sie die Wirtschaft betreten, sich an einen Tisch gesetzt und jeder ein Bier und eine Forelle bestellt hatten, fiel das Schweigen von ihnen ab. »Wie fanden Sie das Konzert?«
    »Ziemlich starker Tobak«, sagte Hannah. »Für meinen Geschmack fast ein bisschen zu monumental.« »Sie sollten sich mal die Opernversion anhören«, sagte er. »Mussorgski hat das Stück später in seinen Jahrmarkt von Sorotschinzy eingearbeitet, mit großem Chor. Das ist erst unheimlich.«
    »Erzählen Sie mir nicht, Sie seien Musikkritiker.«
    Er lachte. »Nein. Die Musik in allen Ehren, aber so weit geht die Liebe dann doch nicht. Ich furchte, Sie werden ziemlich enttäuscht sein. Ich bin Rechtsanwalt. Meine Kanzlei hat ihren Sitz in Berlin. Strafrecht. Hauptsächlich Wirtschaftskriminalität.«
    »Ein Anwalt?« Hannahs Blick wanderte unwillkürlich zu der Narbe in seinem Gesicht. Sie hatte kurz zuvor weitere Narben an Händen und Unterarmen entdeckt. Vermutlich doch ein Unfall.
    »Und was machen Sie so weit weg von Ihrem Arbeitsplatz?« Er griff in die Schale mit Erdnüssen. »Urlaub. Die letzten Monate waren so angefüllt mit Arbeit, dass ich mir eine Auszeit verordnet habe.«
    Hannah musste lächeln. Noch so ein Kandidat. »Ich war fast ein Jahr lang ununterbrochen unterwegs«, fuhr er fort. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das an die Substanz geht.«
    »Und ob«, sagte sie und nahm einen Schluck. Es war ewig her, dass sie Schwarzbier getrunken hatte.
    »Ich besitze ein Haus ganz in der Nähe«, fuhr er fort. »In Bad Harzburg, um genau zu sein. Nichts Großartiges. Nur ein Ort, an dem ich die Seele baumeln lassen kann.« »Bad Harzburg?« Hannah fiel es schwer, sich vorzustellen, wie jemand, der jung und - wie es schien - erfolgreich war und der obendrein so gut aussah, freiwillig hierherziehen konnte. Als sie ihm das sagte, schmunzelte er. »Sie haben offenbar die falschen Gegenden besucht. Da geht es Ihnen wie Heinrich Heine. Wissen Sie, was er nach seinem ersten Besuch auf dem Brocken gesagt hat? Große Steine, müde Beine, saure Weine - Aussicht keine.«
    »Ich mochte Heine schon immer«, sagte sie und lächelte. »Und was genau reizt Sie am Harz?«
    Er zuckte die Schultern. »Die frische Luft, die dichten Wälder, die mystische Atmosphäre, wer weiß? Wissen Sie, ich bin besessen von Geschichten und Geschichte. Beides findet sich hier in Hülle und Fülle. Vielleicht hätte ich lieber Autor werden sollen. Kein Wunder, dass man mich so oft in Buchhandlungen antrifft.«
    »Lassen Sie mich raten: Vermutlich hat Ihren Eltern die Vorstellung vom brotlosen Schriftsteller nicht behagt, habe ich recht?«
    »Meine Eltern sind früh gestorben«, sagte er. »Oh, das tut mir leid.«
    Hannah biss sich auf die Unterlippe. Was war sie doch für eine Meisterin darin, immer ein Fettnäpfchen zu finden. Fehlte nur noch, dass er sich jetzt nach ihrer Familie erkundigte. Wenn dieses Thema zur Sprache kam, war der Abend so gut wie beendet. Schon der Gedanke an ihre Familie war schmerzhaft. Menschen, mit denen sie seit ewigen Zeiten im Streit lag, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Hannah duckte sich innerlich. Doch er schien ihre Verkrampfung zu bemerken und umschiffte die Klippe mit dankenswerter Sensibilität. »Haben Sie das Leuchten vorhin über dem Brocken bemerkt?« Hannah atmete auf. »Allerdings. Sah aus wie ein Feuerwerk. Sehr stimmungsvoll.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ein Feuerwerk war das gewiss nicht. Die Brockenspitze ist eine Trockenzone, da herrscht ein absolutes Brandverbot. Lagerfeuer, Campinggrills oder Knallkörper - alles strengstens untersagt. Aber egal.« Er hob den Kopf. »Wie war Ihre Wanderung?«
    Versonnen drehte sie das Bierglas zwischen ihren Händen. »Sagen wir mal so: Sie war - lehrreich.« »So

Weitere Kostenlose Bücher