Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
Kaninchen. Die Wärme seines Körpers strahlte wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Mit gesenktem Kopf kroch es in Richtung des Baus. Als das Kaninchen nur noch zwei Körperlängen entfernt war, spannte das Wesen seine Muskeln und grub seine Krallen in den Boden. Dann sprang es ab.
    Das Kaninchen hatte keine Chance. Ehe es nur den dunklen Schatten bemerkte, der sich aus der Luft auf ihn herabsenkte, hatten sich die langen Krallen in sein Fleisch gebohrt und zerfetzten das arme Ding bis auf die Knochen. Gierig begann das Wesen, das Blut zu schlürfen. Fleisch mochte es nicht. Seine Nahrung war der warme süße Saft, das rote Lebenselixier. Je mehr es davon bekam, desto besser. Doch ein kleiner Nager wie dieser war schnell ausgesaugt. Als das Wesen seinen Kopf hob, war sein Maul blutverschmiert. Zurück blieben ein eisenhaltiger Geschmack und das Verlangen nach mehr. Die Menge hatte gerade gereicht, um seinen Appetit noch mehr anzufachen.
    Es hob den Kopf, bleckte die Zähne und ließ ein Knurren hören. Dann sprintete es weiter den Hang hinauf.

      
15
      
    Es ging auf zwölf Uhr zu, als die beiden Wanderer ihr Ziel erreichten. Völlig aus der Puste, aber mit einem unbestimmbaren Gefühl von Vorfreude blickte Hannah auf das Felsplateau. Hier oben wuchsen eine Unzahl Gräser, ja sogar erste Blumen und Kräuter, die ihre Blätter dem Licht entgegenstreckten. Wie Honig ergoss sich die Wärme über das Plateau und zauberte einen Garten von paradiesischer Schönheit. Erst jetzt erblickte sie die steil aufragende Felswand. Genau dort lag die Vertiefung, die Michael ihr versprochen hatte. Eine etwa vier Meter hohe Öffnung, die sich in die Wand hinein verjüngte.
    »Besonders tief scheint die Höhle ja nicht zu sein«, bemerkte sie. Ein schwaches Gefühl der Erleichterung stellte sich ein. Seit ihrem Abenteuer in der Sahara hatte sie eine gewisse Phobie für Höhlen entwickelt. Wenn sie nicht so in Zeitnot gewesen wäre, hätte sich der Ausflug auch auf ein Picknick im Sonnenschein beschränken können.
    »Oh, das täuscht«, sagte Michael. »Sie ist wesentlich tiefer, als es von hier aus den Anschein hat. Eine kurze Verschnaufpause, dann gehen wir hinein. Ich verschwinde mal kurz hinter dem Busch dort drüben.«
    Hannah verdrängte das mulmige Gefühl beim Anblick der Höhle und nutzte den Moment von Michaels Abwesenheit, um die Karte vor sich im Gras auszubreiten. Schon bald hatte sie ihren Standort gefunden und markierte die Stelle mit einem Filzstift. Sie waren ein gutes Stück vom regulären Wanderweg abgewichen. Unter normalen Umständen kein Problem, wären hier nicht überall steile Abbruchfelsen. Aber zum Glück befand sie sich ja in den Händen eines Ortskundigen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog sie das Bild der Himmelsscheibe heraus. Sie hatte es maßstabsgerecht auf eine transparente Folie kopiert, damit sich die Sterne schneller mit den betreffenden Punkten auf der Karte vergleichen ließen. Als sie die Folie auf die Karte gelegt und die Kanten zur Deckung gebracht hatte, stockte ihr der Atem. Sie befanden sich an ei-ner der Stellen, die mit einem goldenen Stern markiert waren. Wenn sich hier tatsächlich etwas befand, dann wäre dies eine erste Bestätigung von Johns Theorie.
    Eine Bewegung hinter dem Busch riss sie aus ihren Gedanken. Blitzschnell rollte sie die Folie zusammen und verstaute sie in ihrer Tasche. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment kam Michael aus dem Unterholz. Er sah die Karte auf dem Boden liegen.
    »Ich habe nur schnell unseren Standort notiert«, erläuterte Hannah und tippte mit dem Stift auf das Papier. »Nur damit ich hinterher wieder weiß, wo wir waren. Ich bin so schrecklich hilflos ohne Karte.«
    Er nickte. »Wie sieht's aus? Lust auf ein kleines Abenteuer?« Im Nu hatte sie die Karte zusammengefaltet und in ihre Tasche gepackt. Sie schluckte ihre Angst hinunter und stand auf. »Abmarschbereit«, sagte sie.
    Die Höhle war tatsächlich tiefer, als es von außen den Anschein hatte. Durch einen Riss, der im hinteren Teil des Überhangs entstanden war, hatte sich im Laufe der Jahrmillionen ein Bach gefressen. Die Felsen waren zu einem Schacht von ebenso makelloser wie beängstigender Schönheit erodiert. Derart perfekte Strukturen fanden sich nur selten in der Natur.
    Ihnen haftete etwas Magisches, Übernatürliches an. Hannah spürte, wie die mühsam unterdrückten Ängste wieder aufzusteigen begannen. Ein Gefühl der Beklemmung schnürte ihr die Kehle zu. Bilder

Weitere Kostenlose Bücher