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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Scheibe die meiste Zeit über auf Wanderschaft befunden hat. Sie war eine Art tragbares Observatorium. Was läge also näher, als ihren Ursprung hier, im Herzen der alten Welt zu suchen.« Er breitete die Arme aus. »Sieh dich mal um. Der Brocken war seit jeher das exponierte Zentrum jedweder kultischen Handlung. Allein seine schiere Höhe und seine Unwegsamkeit machten ihn zum Mittelpunkt von Mythen und Legenden. Wenn schon nicht als Ort, an dem Menschen siedeln konnten, so doch als Sitz der Götter. Vergleichbar vielleicht mit dem Olymp der alten Griechen.«
    Hannah folgte seinem Blick. Sie waren mittlerweile so hoch aufgestiegen, dass sie durch die Lücken im Buchenwald weit über das Land blicken konnten. Die Sonne war aufgegangen und goss ihr goldenes Licht über die Landschaft. Es war ein merkwürdiger Anblick. Als wäre es ihr vergönnt, das Land der Götter zu sehen.
    Sie nickte. Es war eine kühne These, die Michael hier verbreitete, aber sie musste eingestehen, dass sie etwas Bestechendes hatte. Wenn es einen Olymp des Nordens gegeben hatte, dann wäre es vermutlich der Brocken gewesen. Sie überkam das Gefühl, dass sie möglicherweise auf geheiligtem Boden standen. Trotzdem: Dass ein Laie wie Michael die Himmelsscheibe mit dem Brocken in Verbindung brachte, war schon sehr ungewöhnlich. Oder hatte sie den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen? War es so offensichtlich? War sie mit ihrer Nase so sehr in die Details eingetaucht, dass sie nicht mehr in der Lage war, das große Bild zu betrachten?
    Michael schien ihre Schweigsamkeit gar nicht zu bemerken. Er war ganz und gar in seinem Element. Mit Erregung in der Stimme fuhr er fort: »Die Scheibe ist doch auf dem Mittelberg gefunden worden, nicht wahr? Nur etwa achtzig Kilometer von hier. In der damaligen Zeit waren das wohl zwei Tagesmärsche. Weit, aber nicht unerreichbar. Könnte es nicht sein, dass die Scheibe auch hier auf dem heiligen Berg zum Einsatz gekommen ist? Warum nicht? Sie war von jeher ein heiliges Objekt, und heilige Objekte verlangen nach heiligen Orten.« »Alles nur Spekulationen«, sagte Hannah, der das alles etwas zu schnell ging. Ihr Körper war die Anstrengung nicht gewohnt, und ihr Verstand arbeitete nur langsam. Sie griff in ihre Tasche und förderte einen Schokoriegel zutage, den sie in Windeseile verspeiste. »Solange wir keine Fakten haben, sind solche Gedanken wertlos«, sagte sie. »Genauso gut könnten wir darüber spekulieren, ob uns die Scheibe von Außerirdischen gebracht wurde. Nein, wir Wissenschaftler denken da anders.« Sie beendete ihre Mahlzeit und stopfte die Verpackung zurück in ihre Tasche.
    »Tatsächlich?« Michael hob eine Augenbraue. »Und warum bist du dann hier?«
    Für einen Moment war sie sprachlos. Dann musste sie lachen. »Erwischt.«
    In ihr Lachen mischte sich eine Spur Erleichterung. Michael mochte sich gut auskennen, aber er war nur ein Hobbyarchäologe. Wäre er vom Fach und hätte er Informationen aus ihr herauskitzeln wollen, dann wäre er mit seiner Theorie nicht so schnell herausgerückt. Kein Wissenschaftler würde freiwillig so offen über eine Idee reden und schon gar nicht mit einem Fremden. Ihre Begegnung war reiner Zufall. Nicht auszudenken, wenn es anders gewesen wäre. »Du hast recht«, sagte sie. »Ich versuche tatsächlich, hier eine Spur zu finden.«
    Michael bedachte sie mit einem schwer zu deutenden Blick. »Da bin ich aber erleichtert. Für einen Moment dachte ich, ich hätte mich in dir getäuscht. Wie kann es für einen Wissenschaftler wertlos sein, seine Phantasie spielen zu lassen? Sich vorzustellen, welche Geheimnisse dieses Land birgt. Die Geschichten, die Legenden, die irgendwann Wirklichkeit werden könnten. Das ist doch genau, was deinen Beruf so reizvoll macht, habe ich recht?«
    »Solange man nicht den Boden der Tatsachen verlässt«, sagte Hannah. »Stimmt. Das Spiel mit den Mythen und die ewige Frage nach dem ‚Was wäre wenn?‘ waren der Grund, warum ich überhaupt angefangen habe zu studieren. Vielleicht bin ich über die Jahre etwas zu nüchtern geworden.« »Wenn das der Fall wäre, dann wärst du nicht hier. Was suchst du eigentlich genau?«
    Hannah hielt den Kopf schief. Vielleicht konnte sie sich Michaels Begeisterung zunutze machen. Mit jemandem an der Seite, der ebenso begeisterungsfähig wie ortskundig war, boten sich ungeahnte Möglichkeiten. Da er so offen zu ihr gewesen war, entschied sie sich, ihn in ihre Theorie einzuweihen. »Also gut«, sagte sie.

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