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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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der bedeutendsten Kunstsammler der Welt, schlug man nicht leichtfertig in den Wind. Hannah hatte sich entschieden. Sie würde der Sache nachgehen, ob mit oder ohne Feldmanns Hilfe. Sie besaß noch ein kleines finanzielles Polster auf ihrem Konto. Ein geringer Einsatz, wenn man bedachte, welche Erkenntnisse am Ende des Weges auf sie warten mochten - abgesehen natürlich von der Verlängerung ihres Vertrages. Der entscheidende Faktor hieß Zeit. Sie musste agieren, solange sie noch Handlungsfreiheit hatte.
    Der Flug nach Aberdeen war schnell gebucht. Weiter ging es dann nur noch mit dem Auto. Wenn alles gutging, würde sie Samstagnachmittag bereits in John o'Groats sein. Sie schaltete das Notebook aus und reckte sich. Nachdenklich blickte sie in die Nacht hinaus. Noch vor wenigen Tagen hatte sie keine Ahnung, wie sie irgendwelche neuen Erkenntnisse aus der Himmelsscheibe herauskitzeln sollte, und jetzt türmten sich die Spuren und Hinweise förmlich vor ihr auf. Gewiss, die Informationen wurden ihr alle von außen zugespielt, aber das war immer noch besser, als sie überhaupt nicht zu haben. Mit gemischten Gefühlen stand sie auf, um es sich noch eine kleine Weile mit ihrem neuen Buch bequem zu machen. Der Geruch einer brennenden Zigarette ließ sie aufmerken. Er kam von der Straße durch das geöffnete Fenster zu ihr herein. Wer außer ihr war denn um diese Zeit noch wach? Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Sie löschte das Licht. Dunkelheit umfing sie. Nach einigen Sekunden schlich sie vorsichtig zum Fenster. Der ganze Himmel war in Aufruhr.
    Seltsame Lichter flackerten hinter dem Horizont und tauchten die Nacht in Schattierungen aus Grün und Blau. Besonders über dem Brocken schienen sie sich zu ballen wie ein fernes Gewitter. Eine Weile sah Hannah dem Spektakel zu, dann richtete sie ihren Blick nach unten.
    Die Gasse lag verlassen im Licht der Straßenlaternen. Kein Mensch war unterwegs. Am Sonntagabend schienen die Bürgersteige in Wernigerode noch früher als üblich hochgeklappt zu werden. Das Kopfsteinpflaster schimmerte nass. Hannah wollte sich schon einreden, dass sie sich das Gefühl nur eingebildet hatte, als sie eine Bewegung unter der Platane vor dem Hotel bemerkte. Nur ganz kurz und nur aus dem Au-genwinkel. Irgendetwas war dort. Eine menschliche Silhouette zeichnete sich gegen die dahinterliegende Häuserwand ab. Plötzlich hob dieser Mensch seinen Kopf, und zwei Augen waren zu erkennen. Zwei Augen, die genau in ihre Richtung starrten.
    Hannah zuckte zurück. Sie wurde beobachtet. Furcht stieg in ihr auf. Die Erinnerungen an die Begebenheit in der Höhle waren plötzlich wieder da. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder so weit in den Griff bekam, dass sie einen weiteren Blick aus dem Fenster wagte. Da war er, stand immer noch an derselben Stelle. Und doch - beim zweiten Blick wirkte der Umriss nicht mehr ganz so furchteinflößend. Es war ganz eindeutig ein Mensch. Klein und gedrungen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein: der Typ vom Marktplatz. Je länger sie ihn betrachtete, umso sicherer war sie sich, dass sie recht hatte.
    Der Fremde stand da und starrte unverwandt und mit geradezu unverschämter Beharrlichkeit zu ihr hinauf. Hannah spürte, wie sich ihre Furcht in Wut zu wandeln begann. Sie war kurz davor, das Fenster zu öffnen und einige höchst unfreundliche Sachen zu rufen, als sie einen anderen Entschluss fasste.
    Sie wollte herausfinden, wer das war und was er vorhatte. Rasch warf sie sich die Jacke über, griff nach den Zimmerschlüsseln und eilte die Treppe hinunter. Sie rannte den Flur entlang und hinaus auf die Straße.
    Der Platz unter der Platane war verlassen. Hannah blickte nach links und nach rechts, doch es war niemand zu sehen. Langsam ging sie an die Stelle, an der sie den Fremden gesehen hatte. Mit angestrengtem Blick, immer damit rechnend, dass im nächsten Augenblick jemand hinter dem Baum oder der nächsten Häuserecke auf sie zustürzen konnte, umrundete sie den Baum. Nichts.
    »Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte Hannah vor sich hin. »Ist doch nicht möglich, dass ich mir das wieder nur eingebildet habe. Ich glaube, ich verliere allmählich den Verstand.« Sie schwieg betroffen, als sie merkte, dass sie zu allem Überfluss auch noch angefangen hatte, Selbstgespräche zu führen. Sie ging wieder an die Stelle zurück, an der sie den Fremden gesehen hatte. Plötzlich bemerkte sie etwas auf dem Boden. Sie ging in die Knie und hob es auf. Es war eine

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