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Nebra

Nebra

Titel: Nebra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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vier Meter entfernt. Es schien ihre Angst zu riechen. Hannahs Kehle entrang sich ein leises Wimmern. Mit geschlossenen Augen stand sie da, Rücken und Hände an den Fels gepresst, den Kopf zur Seite gedreht. Jeden Moment konnte die Kreatur durch den Spalt in der Decke auf sie herabspringen. Doch nichts geschah. Einen Augenblick noch hörte sie ein Schnüffeln und Scharren, dann war das Geräusch von sich rasch entfernenden Pfoten zu hören. Hannah öffnete die Augen zaghaft. Der Sonnenstrahl war wieder zurückgekehrt. Staub rieselte von der Decke, gleißend und leuchtend wie Sterntaler. Schlagartig wurde ihr klar, weshalb das Ding seinen Posten verlassen hatte. Es musste Michael gehört haben.
    Sie wollte einen Warnruf ausstoßen, doch ihre Stimme versagte den Dienst. Sie wollte hinter ihm herrennen, doch auch das schlug fehl. Ihre Beine fühlten sich an wie aus Gummi. Sie schaltete ihre Lampe wieder an. Taumelnd, den Lichtstrahl vor sich gerichtet, stolperte sie in Richtung Ausgang. Ihr Kreislauf begann wieder zu spinnen. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich so unwirklich an wie bei einem dieser Träume, in denen man sich kaum von der Stelle rühren kann. »Michael!«
    Endlich ein Laut. Krächzend zwar und schwach, aber immerhin. »Michael.« Diesmal lauter. Ihre Kräfte kehrten zurück. Hannah zwängte sich durch den Spalt. Sie konnte das Tageslicht am Eingang der Höhle sehen. Ihre Augen wurden von der Helligkeit geblendet. Verwundert blieb sie stehen. Was war das? Täuschte sie sich, oder sah sie dort einen Mann und einen Wolf?
    Der Mann hielt den Arm ausgestreckt, während das riesige Tier kauernd vor ihm saß, den Schwanz zwischen den Hinterläufen eingeklemmt, den Kopf gesenkt. Der ganze Körper eine Geste der Unterwerfung. Das Bild verschwamm. Hannah rieb sich die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war das Tier verschwunden. Taumelnd trat sie ins Licht. Die Hitze traf sie wie ein Keulenschlag. Starke Hände packten sie und ließen sie sanft ins Gras gleiten. Dann wurde es dunkel.
    »Hannah.«
    Eine Stimme rief sie aus der Dunkelheit. »Wach auf.«
    Sie spürte etwas Kaltes auf ihrem Gesicht. Feuchtigkeit, die ihren Hals hinunterlief. Sie schlug die Augen auf.
    »Hannah.«
    Michaels Gesicht wurde von hinten beleuchtet, so dass seine Haare wie ein feuriger Kranz strahlten. Seine grünen Augen schienen sie förmlich aufzusaugen. Sein ganzes Gesicht zog sie magisch an. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Dann kehrte die Erinnerung zurück. »Bist du in Ordnung?«
    »Es geht schon.« Sie ließ sich von ihm aufhelfen und blickte sich um. Die beiden standen oben auf dem Plateau. Vögel zwitscherten, während Myriaden kleinster Insekten über die Gräser schwebten. Die Sonne vertrieb das Gefühl von Kälte aus Hannahs Körper. Sie sah an sich herunter. Ihr Hemd und ihre Hose waren nass. Michael hob entschuldigend die Wasserflasche in die Höhe. »Ich wusste nicht, wie ich dich sonst wach bekommen sollte«, sagte er. »Du warst völlig weggetreten.«
    Sie griff nach der Flasche und trank mit gierigen Schlucken. Danach ging es besser. »Was ist geschehen?« »Keine Ahnung. Sag du es mir.« »Der Wolf...«
    Michaels Augen blickten verwundert. »Wolf?« »Oder was es auch gewesen sein mag. Du musst es doch gesehen haben. Ein riesiges Vieh.« Hannah strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Es saß genau da.« Sie deutete mit dem Finger zum Eingang der Höhle.
    »Aber hier war nichts.« Michael blickte sie ratlos an. »Und der Schatten? Ich habe Geräusche von oben gehört. Ein Keuchen und ein Schnüffeln. Und dann war da noch dieses Knurren. Hast du das etwa auch nicht gehört?« Er schüttelte den Kopf. »Kein Laut. Ich bin oben gewesen. Da war nichts, nicht mal Abdrücke von Pfoten. Vermutlich doch nur ein Ast, der sich im Wind bewegt hat. Du kannst dich gern selbst überzeugen.«
    Hannah war sprachlos. Sollte sie sich das alles nur eingebildet haben?
    »Aber ich ...«
    »Beruhige dich, Hannah, iss erst mal eine Kleinigkeit. Vielleicht war die Anstrengung zu viel für dich. Ich glaube, du hattest einen Kreislaufzusammenbruch. Du bist kreideweiß.« Er nahm seinen Rucksack ab. »Die Natur kann einem hier manchmal Streiche spielen. Nicht ohne Grund steht dieses Land im Ruf, von Elfen und Kobolden bevölkert zu sein.« Er griff in seine Tasche und reichte ihr ein Stück Schokolade. »Hier«, sagte er, »das wird dich wieder auf die Beine bringen. Danach sehen wir zu, dass wir wieder ins Tal kommen. Wir müssen uns

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