Nebra
Zigarettenkippe. Hannah roch daran und berührte die Spitze mit ihrem Finger.
Diese Zigarette hatte vor einer Minute noch gebrannt.
18
Donnerstag, 24. April, Halle
Michael sah Hannah schon von weitem. Ihre zierliche Gestalt und ihre rotbraunen Locken waren unverkennbar. Sie sah etwas verloren aus, wie sie da so ganz allein auf dem obersten Absatz der breiten Freitreppe stand, die zum Haupteingang des Museums führte. Sein schlechtes Gewissen meldete sich wieder, als er von der Richard-Wagner-Straße abbog und seinen Wagen unter den Platanen, die den Rosa-Luxemburg-Platz säumten, abstellte. Er stieg aus, schlug die Tür hinter sich zu und eilte auf Hannah zu.
»Bitte verzeih mir«, sagte er, als er bei ihr eintraf. »Ist sonst nicht meine Art, jemanden warten zu lassen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, ich bin gestern zu spät ins Bett gekommen. Heute Morgen hab ich verschlafen und die verlorene Zeit trotz meiner Raserei nicht mehr aufgeholt. Außerdem hab ich mein Handy vergessen und konnte dich nicht informieren. Sony.«
Doch zu seiner Überraschung reagierte die Archäologin weder enttäuscht noch vorwurfsvoll. Sie empfing ihn mit einem bezaubernden Lächeln und einem höchst angenehmen Wangenkuss. »Mach dir keine Gedanken wegen der paar Minuten. Hauptsache, du bist da.«
Er spürte Wärme in sich aufsteigen. Diese Frau war im höchsten Maße faszinierend. Hannah gehörte zu der Art Menschen, die einen stets überraschen konnten, deren Reaktion man niemals vorausberechnen konnte. Abgesehen davon, dass sie bildhübsch war. Ein Lächeln von ihr konnte die ganze Welt mit Leben und Wärme erfüllen.
Prüfend hob er die Nase. »Hmm. Allure, hab ich recht?« »Respekt. Du hast eine feine Nase.«
Er zuckte mit den Schultern. »Sagen wir lieber, es ist ein Duft, den ich besonders mag.«
»Er wird doch nicht etwa von jemandem benutzt, der dir nahesteht?«
Er neigte den Kopf. Die Frage konnte man so und so verstehen. Sie schien genau zu spüren, dass er sich für sie interessierte. Ihr angeborenes weibliches Geschick für raffinierte Fragen hatte trotz ihres langen Aufenthalts in der Wüste offenbar nicht gelitten. Er räusperte sich verlegen.
Die Reaktion schien Hannah zufriedenzustellen. Mit einem amüsierten Zug um den Mund ergriff sie seine Hand und zog ihn in Richtung Museum. Natürlich war er schon oft hier gewesen. Aber nicht, seit es von Grund auf renoviert worden war, und noch nie in so angenehmer Begleitung. »Wie war dein Abend?«, erkundigte er sich. »Hast du dich von dem Ausflug einigermaßen erholt?«
»Dank der chinesischen Ente war ich schnell wieder auf den Beinen. Schön scharf übrigens.« Sie warf ihm einen aufreizenden Blick zu. Irrte er sich, oder spielte sie ein Spiel mit ihm? »Ich habe gestern die Lichter wieder gesehen«, sagte sie. »Sie waren noch intensiver als am Montag.« »Die Lokalnachrichten haben darüber berichtet. Nach Expertenmeinung handelt es sich um eine Art Polarlicht, ausgelöst durch heftige Sonnenaktivität. Sie sind sich aber noch nicht ganz einig, was da genau geschieht.« »Seltsam«, sagte Hannah.
Er blieb stehen. »Es tut mir immer noch fürchterlich leid, dass der Ausflug so geendet hat«, sagte er. »Es war ziemlich egoistisch von mir, dich den Berg hinaufzuscheuchen. Ich gehe immer davon aus, dass alle so gern wandern wie ich. Das nächste Mal gehen wir Boot fahren.«
»Jetzt hör aber auf!«, entrüstete sich Hannah und stieß ihn in die Seite. »Du tust ja gerade so, als wäre ich eine alte Frau. Dass ich mir zu viel zugemutet habe, ist allein meine Sache. Der steile Anstieg, die dünner werdende Luft - ich bin das einfach nicht mehr gewohnt. Wenn ich aus Schottland zurückkehre, fange ich an, wieder regelmäßig Sport zu treiben. Versprochen.« Sie ging weiter. »Du willst nach Schottland?« »Ja, ich...« Sie zögerte.
»Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht möchtest.« »Es ist nur ein Kurztrip«, erwiderte sie ausweichend. »Nichts Besonderes. Es hat sich gestern Abend kurzfristig ergeben.« »Irgendetwas von Interesse?«
»Ach wo. Du würdest es langweilig finden. Ich gehe der Sache nur nach, weil es entfernt mit der Scheibe zu tun hat.« Er nickte. Was für eine schlechte Lügnerin sie doch war. Sie wollte ihn also nicht einweihen? Na schön. Das war ihr gutes Recht. Was hatte er erwartet? Immerhin hatten sie sich erst vor zwei Tagen kennengelernt. Trotzdem war er natürlich etwas enttäuscht, dass sie ihn nicht
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