Necroscope 8: BLUTFÜRSTEN (German Edition)
noch, in eine andere Welt, seine eigene nämlich, wo er endlich aufwachen würde, so viel wusste er, denn derartige Dinge geschahen nur in Albträumen. Aber genau wie in einem Albtraum wollten seine Beine sich nicht vom Fleck rühren, sie schienen an dem behauenen Felsboden festgewurzelt.
Wamus hingegen kannte derartige Hemmnisse nicht. Er bewegte sich, blitzschnell und ansatzlos, bevor der Soldat es überhaupt mitbekam ...
Unten auf dem Hof wurden heisere Flüche und das Getrampel rennender Stiefel laut. Taschenlampen leuchteten den Grund der Schlucht nach Nord und Süd aus und wurden nach oben geschwenkt, um den Felshang, die düster drohende Fassade der Festung und den Himmel abzusuchen. Mit einem bedrohlichen, endgültig klingenden Ch-ching! wurden automatische Waffen durchgeladen.
Aber wovor sollten sie einen schützen? Es gab kein Ziel, keinen Gegner.
Mit einem Mal kam die Hektik zum Erliegen und Stille kehrte ein. Jeder hielt den Atem an. Auf dem gewachsenen Fels des Hofes lag ein Toter, Blut und Hirn wie ein schmieriger Heiligenschein rings um seinen Kopf verspritzt, vergleichbar einem gemalten Pfauenrad, allerdings ohne dessen Schönheit und ohne Leben. Auf den höhergelegenen Wachtürmen war keinerlei Bewegung wahrzunehmen, dort schien niemand die Tragödie bemerkt zu haben, und unten im Hof fiel weder auf, dass die schroffen Mauern auf einmal wie von Flechten überzogen wirkten, noch, dass manche dieser Flechten langsam abwärtskrochen.
Plötzlich wurde es im Innern der Feste lebendig. Das Poltern weiterer Stiefel erscholl, und Ameisen gleich, die aus einem bleichen Totenschädel krabbeln, tauchte Bruno Krasin mit einer Handvoll Männer in der düster gähnenden Öffnung des Eingangsgewölbes auf. Sie verhielten einen Moment, um sich umzusehen, und hasteten dann die Außentreppe hinab. Von den unteren Balkonen und Fenstern aus verfolgten weitere Männer mit großen Augen, was vor sich ging.
»Was ist los?«, brüllte Krasin, indem er den Streifenposten beiseiteschob und auf Unteroffizier Zorins Leichnam hinabblickte. »Was?«, wollte er wissen.
»Er ist von da oben runtergefallen«, murmelte jemand.
»Oder er wurde herabgestürzt!«, stieß ein anderer mit unterdrückter Stimme hervor. »Er hat geschrien, aber es war – wie soll ich sagen? – die Art, wie er schrie! Ich glaube, er hatte furchtbare Angst, und zwar nicht nur vor dem Sturz ...«
»Halt’s Maul!«, fuhr Stabsfeldwebel Krasin ihn an, obwohl er davon ausging, dass der Mann recht hatte. Im nächsten Augenblick hob der Zugführer sein hageres Gesicht in die Nacht und donnerte los: »Hört zu! Für den Rest der Nacht bis Tagesanbruch befinden wir uns in Alarmbereitschaft! Wenn ihr überleben wollt, tut genau , was ich sage! Wenn sich irgendetwas rührt und nicht auf euren Ruf antwortet, dann schießt ihr, ohne zu zögern! Kein zweites Mal nachfragen! Wenn ihr auch nur den geringsten Zweifel habt, legt den Bastard um!«
Er ließ den Strahl einer starken Taschenlampe an der Fassade der Feste nach oben gleiten. »Ihr da oben, in den Türmen und auf den Mauern – was, zur Hölle, ist da passiert? He, Raikin!« (Der Mann, der mit Zorin zusammen gewesen war.) »Wie ist es zum Sturz des Unteroffiziers gekommen?« Keine Antwort. Genau damit hatte Krasin gerechnet.
Der dritthöchste Aussichtspunkt bestand lediglich aus einer natürlichen Höhle, die einfach von einer steinernen Mauer begrenzt wurde. Den einzigen Zugang bot eine gefährlich steile aus dem Fels gehauene Außentreppe. Innen, an der Rückseite der Höhle, gab es einen weiteren steilen, finsteren Treppenschacht, der vor Zeiten wohl eine Verbindung zu anderen Festungsteilen dargestellt hatte. Doch nun war er verschüttet und unpassierbar. Im Schein der Taschenlampen sah man hinter der Mauer zwei bleiche, besorgte Gesichter zu Krasin hinunterspähen – die Bedienmannschaft eines Flammenwerfers, die dort Stellung bezogen hatte, um etwaige Angriffe aus der Luft abzuwehren.
»Nun?«, brüllte Krasin hinauf, richtete seine Taschenlampe nach oben und ließ ihren Strahl nun ebenfalls kreuz und quer umherschweifen. »Habt ihr etwas gesehen?« Doch in diesem Augenblick nahm er selbst etwas wahr!
Krasin hatte die Augen eines Adlers und das Gedächtnis eines Elefanten. Er war durch und durch Soldat, man brauchte ihm nur sein Einsatzgebiet zu zeigen, und schon prägte er sich alles bis in die letzte Einzelheit ein. Ebendies hatte er vorhin mit der Fassade der Feste getan, ohne sich dessen
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