Necroscope 8: BLUTFÜRSTEN (German Edition)
sich die Lücken in Nestors Gedächtnis, das so schlimmen Schaden gelitten hatte. Allerdings machte dies keinen wirklichen Unterschied für ihn – dachte er. Denn das Kind und der junge Mann, der er einst gewesen war, waren ihm so fremd geworden, als handle es sich um jemand anderen. Er war Lord Nestor von den Wamphyri.
Erst stand Nestor nur da, dann setzte er sich und lauschte, während aus der kalten Erde nach und nach ein bisschen Wärme in ihn drang. Mit den Erinnerungen, die längst nicht mehr die seinen waren, versuchte Nana, die Kälte in ihm zu vertreiben. Was seine Mutter vorhatte, lag auf der Hand. Er durchschaute ihre Absicht, sie wollte ihn hinhalten; und doch steckte mehr dahinter. Denn Nana hatte noch nie jemanden hinters Licht geführt, und nun, wo sie im Grab lag, würde sie auch nicht damit anfangen. Und doch blieb der Nekromant sitzen wie ein kleiner, wenn auch Furcht einflößender Junge zu Füßen seiner Mutter. Obwohl ihm widerstrebte, was sie sagte, gab es doch einen kleinen Teil in ihm, der ihre Worte gierig aufsaugte wie ein Schwamm, während sie seine verblassten Erinnerungen neu belebte und diese vor seinem geistigen Auge Gestalt gewannen.
Tief in seinem Innern griffen längst verrostet geglaubte Zahnräder ineinander und setzten sich ächzend in Bewegung ...
*
In dieser Nacht schlief Nathan ungestört weiter (obwohl er bald wieder auf den Beinen sein würde) und erfuhr vorerst nichts davon, dass Nestor sich an Nanas Grabstätte aufhielt.
Auf der Sternseite hielt sich lediglich noch die Räudenstatt mit einem gewissen Maß an Erfolg. Die ganze Stätte erdröhnte von Cankers Mondmusik und von seinem »Gesang«. Verteidigt von Bestien, Leutnanten und Knechten (den »Welpen« des Hunde-Lords, die tatsächlich eher tollwütigen Hunden glichen), schien die Räudenstatt uneinnehmbar. Hoch über ihnen allerdings kicherte Wratha die Auferstandene – die das Wort »uneinnehmbar« ebenfalls von Zeit zu Zeit gebraucht hatte – wie eine Irre hinter ihren silbernen Gitterstäben vor sich hin und versetzte ihren Käfig in Schwingungen, während sich die Wrathspitze, wie es aussah, bereits in der Hand der Eindringlinge aus dem Osten befand.
Weiter östlich, wo sich der gezackte Grat des Grenzgebirges in vereinzelte, immer niedriger werdende Kämme auflöste und schließlich in die Ebene überging, flog Spiro Todesblick auf die letzte Anhäufung übereinandergestürzter Felsen zu, die den östlichen Rand des Gebirgszuges markierten. In seine üblichen Lumpen gekleidet, flatterten die Enden seines blutverschmierten Stirnbandes hinter ihm im Wind. Eine Flügelspanne zu seiner Linken glitt der Flugrochen, den er zum Wechseln mitgenommen hatte, mühelos auf einer aus dem Norden herüberwehenden Brise dahin. Eingelullt vom steten Schlag kräftiger Mantaschwingen, ließ Spiros Aufmerksamkeit nach. Er ergab sich einer angenehmen Mattigkeit und dachte an nichts. Sein ansonsten machthungriger Geist war leer ...
Leere herrschte auch im Geist des Schwarzen Boris, hier allerdings mit voller Absicht. Nicht anders als er Gorvi überrascht hatte, gedachte er aus dem Hinterhalt über Spiro herzufallen. Denn nachdem Boris von den Desmodus -Fledermäusen, die er in den Troghöhlen als seine Diener rekrutiert hatte, gewarnt worden war, dass Spiro sich im Anflug befand, hatte er sich mit einem Leutnant in den letzten Ausläufern des Felsmassivs verborgen. Zusammengekauert auf ihren Flugrochen, die sich auf den stürmischen Aufwinden nebeneinanderhielten, warteten sie, während hoch über ihnen, versteckt hinter den dahinjagenden Wolken, ein Krieger mit scharfen Augen und aufgeblähten Gasblasen wachte und Ausschau nach Spiros Vorankommen hielt. Nur ein einziger Krieger diesmal, aye, denn bei dem Angriff auf Gorvi hatte Boris sich davon überzeugen können, dass ein Krieger ausreichte.
Ähnlich wie zuvor Gorvi war auch Spiro vollkommen überrascht, als Boris und sein Gefolgsmann aus dem Schutz der Felszacken glitten und ihm den Weg versperrten. Wen haben wir denn da?, rief der Schwarze Boris fröhlich. Ich kann es kaum glauben. Na, wenn das nicht Spiro Todesblick ist! Meine Güte, ihr Abtrünnigen habt es wohl nicht so sehr mit dem Kämpfen! Wenn es ernst wird, fallt ihr ja um wie die Fliegen!
Oder wie die Frauen der Trogs, wenn der Schwarze Boris die Hosen runterlässt?, erwiderte Spiro geistesgegenwärtig.
Nun war es an Boris, überrascht zu sein. Dies war ein neuer, bislang gänzlich unbekannter Spiro. Allem
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