Necroscope 8: BLUTFÜRSTEN (German Edition)
verändert hatte. In den obersten Etagen hatten die Kämpfe aufgehört, und die meisten der Feuer waren erloschen. Mit ihren rußgeschwärzten Fenstern und Landebuchten und unzähligen Rissen und Spalten sah die Spitze des Turmes aus wie ein Totenschädel. Auf dem flachen Dach wimmelte es von Truppen, aber nichts deutete auf irgendwelche Kampfhandlungen hin. Offensichtlich handelte es sich bei diesen Männern und Kreaturen um die Sieger. Die Wrathspitze war eingenommen.
Weiter unten jedoch, in der Räudenstatt, wurde noch immer Widerstand geleistet. Mehrere Krieger belagerten die Stätte. Einige flogen hin und her, andere schwebten etwas abseits mit grotesk aufgeblähten Gasblasen reglos in der Luft. In den Geschossen direkt über, vor allem aber unterhalb jener widerspenstigen Stätte waren die kriegerischen Aktivitäten noch nicht ganz eingestellt. Hinter augengleichen Fenstern loderten immer noch Brände, und aus versengten Kaminschlitzen quoll dichter Rauch.
Das deutlichste Anzeichen dafür, dass die Räudenstatt sich noch nicht ergeben hatte, war Cankers Mondmusik, ein ohrenbetäubender, völlig aus dem Takt geratener Lärm, der aus dem rückwärtigen Bereich der Stätte drang, als seien dort Hunderte wahnsinniger Orgelspieler am Werk, und mit dem eisigen Nordwind immer weiter anschwoll. Das Getöse reichte bis zu Nathan, über anderthalb Kilometer entfernt, schwappte über ihn hinweg und hallte von den Hängen der Grenzberge wider. Der Necroscope konnte es zwar nicht wissen, doch dies war das Vorspiel zu Cankers Flucht. Der Hunde-Lord wollte sich in die Lüfte schwingen und zum Mond fliegen, um die Priester dort zu einem Kampf auf Leben und Tod herauszufordern. Der Preis waren all die silbernen Mondgöttinnen, die er dort oben finden würde. Eines allerdings wusste Nathan oder nahm es zumindest mit Gewissheit an – nämlich dass Siggi Dam und Cankers übrige Gefolgsleute mittlerweile stocktaub sein mussten oder wenigstens ebenso wahnsinnig wie ihr Gebieter.
Nathan hatte genug gesehen und kehrte zur Sonnseite zurück. Eingeprägt hatte sich ihm das Bild all dieser Männer und Monster, die auf dem Dach des letzten Felsenturmes durcheinanderliefen, und er fragte sich, was Devetaki Schädellarve wohl als Nächstes unternehmen würde. Eigentlich wusste er es bereits, aber er vermied es, näher darüber nachzudenken. Am besten, er machte sich erst Gedanken darüber, wenn es so weit war ...
Wieder im Lager, setzte er sich ans Feuer und meinte zu Chung, dem Lokalisierer: »Als ich aufwachte, dachte ich, ich würde nördlich von hier etwas spüren. Ist dir auch etwas aufgefallen?«
Chung zuckte die Achseln, allerdings keineswegs achtlos. »Ja und nein. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sich irgendwer da draußen aufhält, und ein-, zweimal war mir, als wäre ich auf Hirnsmog gestoßen. Vielleicht sind es aber auch nur meine Nerven. Die können einem hier schon mal durchgehen! Doch wie dem auch sein mag, es ist nichts Greifbares.«
Nathan nickte und wandte sich an Goodly. »Und was siehst du?«
Der Hellseher blickte ihn an. »Vor uns? Etwas so Großes, dass ich keine Ahnung habe, um was es sich handelt. Mehr vermag ich dazu nicht zu sagen.«
»Das könnte alles heißen.«
»So ist es nun mal. Die Zukunft kann alles Mögliche bereithalten. Ganz besonders hier.«
»Oh?«
»Es kommt mir alles so falsch vor. Es ist alles so verkehrt!«
»Was denn?« Das interessierte Nathan. Es geschah nicht oft, dass man Ian Goodly so aufgeregt wie jetzt erlebte.
»Diese Welt!« Goodly hob hilflos die Arme. »Ich meine, diese ganze Parallelwelt hier! Sonne, Mond und Sterne! Zu Hause habe ich mich ein bisschen mit Astronomie beschäftigt, nicht allzu sehr, aber genug, um zu wissen, dass hier nichts so ist, wie es eigentlich sein sollte. Wir bekommen die Sonne kaum zu Gesicht – und doch sind die Tage länger als die Nächte! Und der Mond ist mal hier, mal da zu sehen. Das heißt entweder ist er aus der Bahn geraten oder mit seiner Rotation stimmt etwas nicht – oder beides. Außerdem habe ich mir die Sterne betrachtet. Erst bewegen sie sich schnell und dann wieder langsam. Oder wir tun es.«
Nathan nickte. »Diese Dinge sind mir seit jeher bekannt – jeder Traveller kennt sie. Aber wir hatten keine Ahnung, was es bedeutet. Doch nun ... glaube ich, weiß ich, was es zu bedeuten hat. Du darfst nicht vergessen, dass es bei uns so gut wie keine Naturwissenschaften gab. In deiner Welt habe ich dann innerhalb kürzester Zeit
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