Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
draußen sein, Harry!
Dort unten lag sie, unter Schlamm und Algen begraben, ihr Geist zumindest und wohl auch ihre Knochen, auch wenn der Fluss den Rest schon vor langer Zeit weggespült hatte. Das war typisch Mutter (und zwar für jede Mutter, ganz gleich, wo)! Mary Keogh konnte selbst zwar keine Kälte mehr empfinden, dennoch fühlte sie mit ihrem Sohn.
»Ich fühle mich ganz gut so«, sagte Harry.
Nein, tust du nicht! Aber sie wollte es nicht auf die Spitze treiben, jedenfalls nicht im Augenblick. Und weil er keine Anstalten machte, das Gespräch zu beginnen, fuhr sie fort: Wie steht es draußen in der Welt, Harry? Ich meine, mit dem Rest der Welt ...
Er durchschaute sie. Sie wollte ihn von seinen Problemen ablenken, indem sie ihn dazu brachte, vom Zustand der Welt insgesamt zu berichten. Nun, da die Toten in der Lage waren, sich aus ihren Gräbern und diversen Ruhestätten heraus miteinander zu unterhalten, konnten sie Neuigkeiten genauso gut von den neu Hinzugekommenen erfahren. Allerdings war es wesentlich plastischer, wenn der Necroscope es vermittelte; dann konnte man es sehen und vielleicht sogar spüren, wenn nicht gar selbst miterleben. Harry war ihre einzige Verbindung zu den Lebenden. Und insbesondere in diesem Fall ließ Harry sich darauf ein. Seine Mutter hatte recht; es ging ihm nicht gut.
Nicht dass es allzu viele gute Nachrichten gab. »Willst du es wirklich wissen?«
Steht es so schlimm?
»Na ja, nicht gerade zum Besten!« Er verzog das Gesicht. »Aber sieh doch selbst!« Damit rief er sich die letzte Nachrichtensendung in Erinnerung:
»Ganz Afrika befindet sich in Aufruhr: neben Sambia auch Rhodesien, Mogadischu, Somalia und Äthiopien. Mit der Vormachtstellung der Weißen in Rhodesien geht es zu Ende. Bei den jüngsten Abstimmungen sprach sich die Mehrheit dafür aus, dass die schwarze Bevölkerung selbst eine Regierung bilden soll.«
Aber ist das denn nicht richtig? Schließlich sind alle Menschen gleich geschaffen!
Er zuckte die Achseln. »Solange die neuerdings Gleichen sich damit zufriedengeben, gleich zu bleiben – ich meine, solange sie nicht gleicher sein wollen – dürfte das wohl in Ordnung sein ...« Und um das Thema zu wechseln, bevor sie ihm widersprechen oder mit einer Moralpredigt anfangen konnte, fügte er hinzu: »In den USA ist es in einem Ort namens Three Mile Island, das ist ein Atomkraftwerk, zu einer Kernschmelze gekommen.«
Oh? Sie klang nicht sehr beeindruckt. Da ist also etwas geschmolzen? Ist das denn so wichtig?
Harry musste grinsen. Zu Lebzeiten seiner Mutter hatte die industrielle Nutzung der Kernkraft noch in den Kinderschuhen gesteckt. »Ja, ziemlich wichtig! Es ist ein gefährliches Zeug und absolut tödlich, Ma. Ein hässlicher, unsichtbarer, lautloser Tod!« Das Grinsen war aus seinem Gesicht gewichen und seine Mutter begriff, weshalb. Sie hatte die entsetzlichen Auswirkungen in seinem Geist gesehen. Er spürte, wie ihr körperlos schauderte.
Was gibt es sonst noch?, wollte sie wissen.
»Na ja, aus Kambodscha hört man grauenhafte Dinge, aber ...«
Harry biss sich auf die Zunge und versuchte, die Bilder aus seinem Geist zu verbannen. Das konnte er seiner Mutter nun beim besten Willen nicht erzählen, nicht das! Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen, dass er überhaupt davon angefangen hatte? Vielleicht lag es daran, wie sie , seine Mutter, gestorben war; aber als er die Meldungen über den Todes-See in Stung Treng gelesen hatte, hatte er davon Albträume bekommen – zweitausend Menschen, mit Stricken aneinandergefesselt und dann mit Steinen beschwert ...
Aber natürlich hatte sie von dem Augenblick an, als er das Wort Kambodscha aussprach, alles mitbekommen. Leise sagte sie: Mach’ dir deshalb keine Sorgen, Harry! Wir alle wissen darüber Bescheid. Und was Pol Pot angeht: Früher oder später wird auch er sich zu uns gesellen, weißt du, und er hat nicht die geringste Ahnung, was ihn hier unten erwartet.
»Was erwartet ihn denn?« Harry hatte die Toten nie als besonders rachsüchtig empfunden. Außerdem ... was konnten sie überhaupt tun – sofern nicht er, Harry Keogh, der Necroscope, ihnen Anlass gab, aus ihren Gräbern zu steigen?
Tun?, entgegnete seine Mutter prompt. Wir werden gar nichts tun. Niemand wird mit ihm reden oder irgendetwas mit ihm zu tun haben wollen, nicht mit ihm! Ihm wird kalt sein und er wird sich einsam und verlassen fühlen, so als ob es ihn überhaupt nicht gäbe, noch nicht einmal hier unten im Grab. Er wird
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