Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
sie kümmerten. Oder, vielleicht eher, sie besaßen.
Aber dieser sonderbare Fremde wirkte nicht so, als würde ein anderer ihn besitzen. Und wenn seine weißen Augen auch angsteinflößend waren, so war seine Persönlichkeit der diametrale Gegensatz. Er war ein ruhiger und schüchterner Mann, der ein bisschen Englisch sprechen konnte. Man konnte sich mit ihm austauschen. Er sagte, dass er müde und hungrig sei, er nahm eine Dusche, dann bekam er Frühstück, und jetzt saß er im Frühstücksraum und unterhielt sich mit Janne.
Leutnant Louise Ahl war von dieser Tatsache nicht rundweg begeistert. Janne war vermutlich vollkommen ungefährlich, aber kein angemessener Umgang. Er erzählte zu gern seine Räubergeschichte, wonach er ein hart kämpfender Schriftsteller war, dem es nie gelang, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, und der schließlich von seinem Verlag abgesägt worden war. Leutnant Louise Ahl war sich sicher, dass es eine Lügengeschichte war. Als Janne sich am Tisch des Fremden niedergelassen hatte, hatte sie sich sofort dazugesellt, um nach dem Rechten zu sehen. Jannes Englisch war richtig gut. Als sie wenige Minuten später noch einmal bei den beiden vorbeiging, hörte sie ihn sagen: »Let’s try the recording device, then.«
Der sonderbare Fremde nickte.
Über eine Stunde saßen sie jetzt schon zusammen und unterhielten sich. Louise Ahl fragte sich, worüber sie sprachen. Sie wandte ihren Blick wieder nach draußen, auf das Baustellenchaos vor den Fenstern des Sozialzentrums. Von ihrem Platz aus hatte sie einen guten Überblick über die Gegend und wusste immer, was gerade passierte.
Die Vertreibung der Obdachlosen. Die Vertreibung aus der Innenstadt und aus den Stadtteilen zwischen den alten Zollstationen. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen Zwangsmarsch über die Liljeholmsbron, und der erinnerte sie in unheilvoller Weise an die Todesmärsche gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Natürlich wusste sie, wie ungerecht dieser Vergleich war. Hornstull musste aufgeräumt und adrett gemacht werden – sie war die Erste, die das zugab –, trotzdem bekam sie diese Bilder nicht aus dem Kopf. Die Formation, in der die Penner über die Brücke schlichen, erinnerte sie sehr an den Totentanz in der Abschlussszene von Ingmar Bergmans Film Das siebente Siegel .
Als sie sich wieder umdrehte, stand er direkt vor ihr. Nicht weit von ihrem Gesicht entfernt. Die kreideweißen Augen wollten etwas von ihr.
»Hätte das Fräulein einen Augenblick Zeit?«, fragte er in äußerst versiertem Englisch.
»Selbstverständlich«, antwortete Leutnant Louise Ahl und erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder.
*
Anders als die anderen sozialen Einrichtungen führte das Sozialzentrum der Heilsarmee nicht Buch über seine Besucher. Mit anderen Worten erfuhr sie nie, wie der sonderbare Fremde hieß. Aber er blieb lange, bis weit nach der regulären Schließzeit und nahm sogar an der Andacht teil, die dreimal die Woche im Sozialzentrum abgehalten wurde. Zu ihrem großen Unmut war Janne die ganze Zeit mit dabei. Louise Ahl war nämlich keineswegs von seiner Gottesfürchtigkeit überzeugt.
Sie selbst nahm auch an der Andacht teil. Major Bengtsson hielt sie. Ab und zu sah sie zu dem sonderbaren Fremden hinüber. Er wirkte, als wäre er tief ins Gebet versunken, und erst gegen Ende der Andacht bemerkte sie den kleinen Ohrstöpsel, der in seiner Ohrmuschel steckte.
Nach der Andacht saßen Janne und er noch eine ganze Weile zusammen. Sie sprachen leise miteinander, flüsterten. Als sie schließlich Richtung Ausgang gingen, hob der sonderbare Fremde die Hand zu einem eiligen Gruß. Woher konnte er wissen, wo sie saß? Lange blieb ihre Hand in der Luft schweben. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er sie nicht doch sehen konnte.
Als die beiden die Långholmsgatan hinuntertaumelten, zwei gebeugte und kaputte Gestalten, folgte sie ihnen mit dem Blick. Beinahe hätten sie einen Mann mit lateinamerikanischem Aussehen und iPad in der Hand über den Haufen gerannt, ehe sie weiter Richtung Bergsunds strand zogen.
Da schoss ihr durch den Kopf, dass sie in einer anderen Epoche nicht Leutnant, sondern ganz anders genannt worden wäre. Und der Anblick der beiden traurigen Gestalten auf dem Bürgersteig ließ sie einsehen, dass diese andere Bezeichnung auch besser gepasst hätte.
Im 19. Jahrhundert hätte man sie eine Armenschwester genannt.
Während sie ihre Sachen packte, um sich wieder mit dem Zug auf den Heimweg zu machen, war
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