Nekropole (German Edition)
Hilflosigkeit. Andrej erging es ja kaum anders. Er hatte Aylas Nähe vom ersten Moment an gespürt, mal mehr, mal weniger, und er fühlte sie auch jetzt. Das Problem war, dass er nicht sagen konnte, wie nahe sie ihnen war oder in welcher Richtung sie sich befand. Es war, als wäre sie in unzählige Facetten zersplittert, die in einem lautlosen Wirbelsturm in der finsteren Leere umhertanzten.
»Da ist Blut«, sagte Ali plötzlich. Abu Dun machte ein zweifelndes Gesicht. Andrej beugte sich vor und senkte seine Fackel. Blut hätte er gerochen, lange bevor Ali es sehen konnte, aber das rote Licht der Flamme brach sich auf einer Spur aus schwarzen Tropfen, die zwischen den Trümmern verschwand.
»Sie ist weggelaufen«, sagte Kasim. »Ich dachte, nur aus Angst. Aber vielleicht haben sie sie verfolgt.«
Und vielleicht war das auch der Grund für seine Verwirrung, dachte Andrej beunruhigt. Vielleicht war es ja gar nicht Aylas Nähe, die er gleich mehrfach zu spüren glaubte.
Andrej überlegte einen Moment, wie dieses Hindernis überwunden werden konnte. Er zweifelte nicht daran, dass Abu Dun die Lücke ohne besondere Mühe entsprechend vergrößern konnte, aber dann würde ihnen möglicherweise auch noch die restliche Decke auf die Köpfe fallen.
»Ein Stück hinter uns ist eine Abzweigung.« Die unterirdische Akustik und die von den zuckenden Flammen zerschnittene Dunkelheit verliehen Hasans Stimme etwas so Fremdes und Unheilschwangeres, dass Andrej sich fast wünschte, er würde schweigen. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wohin sie will.«
Andrej war ziemlich sicher, dass er es die ganze Zeit über schon gewusst hatte, aber er hütete sich, Abu Dun und dem Assassinen-Hauptmann Anlass für den nächsten Disput zu liefern. »Dann gehen wir zurück«, sagte er.
Abu Dun schüttelte bedächtig den Kopf und ließ seine künstliche Hand so schwer auf Andrejs Schulter fallen, dass er beinahe in die Knie gegangen wäre. »Wir folgen dieser Fährte hier«, bestimmte er, in einem Ton, der den Gedanken an Widerspruch gar nicht erst aufkommen ließ.
Zwar konnte er sein Gesicht nicht sehen, doch Andrej spürte trotzdem, dass Ali zu einem geharnischten Protest ansetzte, jetzt aber war es Hasan, der auf die einfachste Art schlichtend eingriff, indem er sich kommentarlos umdrehte und ging. Ali schoss noch einen giftigen Blick in ihre Richtung ab, aber er fügte sich nicht nur wortlos, sondern reichte Andrej auch seine Fackel, sodass sie zumindest nicht in völliger Finsternis zurückblieben.
Das hätte sie wohl kaum aufgehalten, aber Andrej ertappte sich dabei, zum ersten Mal in seinem Leben in der Dunkelheit ein gewisses Unbehagen zu verspüren. Es musste an diesem Ort liegen, der etwas in ihm anrührte, das besser nicht geweckt werden sollte.
»Tritt zurück«, sagte Abu Dun. Andrej gehorchte schweigend und erwartete, dass der Nubier nun sein Schwert ziehen und das Hindernis aus dem Weg hebeln würde, doch dem Nubier schwebte eine deutlich direktere Vorgehensweise vor: Er griff kurzerhand mit seiner eisernen Klaue zu und riss die Steine so mühelos auseinander, als wären sie aus bemaltem Papier. Andrej hörte ein schweres Knirschen und das Rieseln von Staub und kleinen (und nicht ganz so kleinen) Steinchen, aber er hütete sich, nach oben zu sehen. Wenn ihm der Himmel schon auf den Kopf fiel, dann war es ihm lieber, wenn es ohne Vorwarnung geschah.
Auch auf der anderen Seite war der Tunnel halb eingestürzt, aber so dunkel, dass die Schwärze das Licht der schon halb heruntergebrannten Fackel aufzusaugen schien. Abu Dun bedeutete ihm ungeduldig mit der gesunden Hand, durch den schmalen Spalt zu treten, den er freigeräumt hatte, während er mit dem anderen Arm die Decke abstützte, obwohl es gar nicht nötig war. »Nun mach schon«, drängelte er. »Ich sehe ja vielleicht aus wie Atlas –«
»Nicht einmal annähernd.«
»– aber das heißt nicht, dass ich es bin.«
Andrej schob sich behutsam an dem nubischen Riesen vorbei und hob auf der anderen Seite seine Fackel, aber auch sein zweiter Versuch, die Dunkelheit zurückzutreiben, scheiterte kläglich. Etwas war hier, etwas Unsichtbares und möglicherweise sogar Körperloses. Er war fast erleichtert, als sich Abu Dun schnaufend hinter ihm durch den schmalen Spalt drängte. Er wirkte enttäuscht, als der Gang nicht hinter ihm zusammenbrach.
»Also?«, fragte Andrej.
»Also was?«, wiederholte Abu Dun, wie immer so perfekt den Dummkopf spielend, dass er sogar Andrej
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