Nekropole (German Edition)
solltet das auch.«
Da ihn sein Zeitempfinden nach wie vor im Stich ließ, versuchte Andrej, die Schritte zu zählen, die sie zurücklegten, kam aber schon bald durcheinander und gab es auf. Nach vielen Abzweigungen und Biegungen, Treppen und Abstiegen war es ihm unmöglich zu sagen, in welche Richtung sie gegangen waren, oder wie weit und wie tief. Vielleicht flanierten über ihren Köpfen gerade in diesem Moment Menschen, fuhren Wagen oder galoppierten Pferde, vielleicht näherten sie sich aber auch dem Mittelpunkt der Erde oder dem Einstieg zur Hölle, ein Gedanke, der durch ihre bizarre Umgebung noch zusätzliche Nahrung bekam.
Andrej hätte nicht einmal sagen können, ob sie wirklich von der Stelle gekommen waren. Das Labyrinth aus Kerkern, Waffenkammern, Verliesen und Räumen unbekannten Zweckes schien sich unter der gesamten Arena erstreckt zu haben, und sie hatten oftmals kehrtmachen oder große Umwege in Kauf nehmen müssen, wenn ihr Vorwärtskommen durch Trümmer blockiert wurde oder sie in einer Sackgasse angelangt waren. Immer wieder stießen sie auf Zeugen Jahrtausende zurückliegender Grausamkeiten, die nichts von ihrem Schrecken eingebüßt hatten: rostige Gitterstäbe vor Zellen, die kaum groß genug schienen, ein Kind aufzunehmen, geschweige denn einen Erwachsenen, Waffen und rostige Folterinstrumente, deren bloßer Anblick das längst verhallte Echo verzweifelter Schreie weckte, und einmal sogar ein anderthalb Jahrtausende altes Skelett, das noch immer angekettet in einer der winzigen Zellen lag. Tatsächlich war ihm, als wären sie schon längst in der Hölle angekommen.
Er war wohl auch nicht der Einzige, dessen Gedanken sich auf so sonderbaren Pfaden bewegten. Kaum jemand sagte etwas, und wenn, dann nur das Allernötigste, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Menschen nicht reden mussten, um zu sprechen. Die Bewegungen und Gesten der Männer wurden fahriger und nervöser, und bald war die Anspannung so groß, dass man sie fast mit Händen greifen konnte.
Dann … änderte sich etwas. Mehr konnte Andrej nicht sagen, doch das Gefühl der Erwartung wurde immer drängender.
Ali, der auch jetzt wie fast die ganze Zeit über zusammen mit Kasim die Spitze der kleinen Kolonne bildete, blieb plötzlich stehen und hob mahnend die Hand, und außer Abu Dun und Andrej folgten alle anderen seinem Beispiel.
Unbeschadet des sicheren Wissens, dass jede Gefahr, auf die sie hier unten stoßen mochten, nicht mit einer Waffe zu besiegen wäre, die Hand auf den Schwertgriff legend, trat Andrej neben den Assassinen-Hauptmann und neigte fragend den Kopf zur Seite. Ali bewegte seine Fackel, und winzige rote Lichtblitze eilten ihnen wie stumme Kundschafter voraus, aber das machte es eher noch schwerer, etwas zu erkennen. Nicht weit vor ihnen endete der Gang vor einem Hindernis, das selbst für Andrejs scharfe Augen nicht auszumachen war, doch für einen Moment bildete er sich ein, eine schattenhafte Bewegung wahrzunehmen. Aber hier und jetzt war er längst über den Punkt hinaus, seinen Sinnen trauen zu können.
Abu Dun offenbar auch. »Was?«, fragte er nur.
Ali streckte den Arm mit der Fackel aus und schüttelte den Kopf, um ihn zurückzuhalten, als er an ihm vorbeigehen wollte. Andrej nutzte die Gelegenheit, um auf der anderen Seite dasselbe zu tun. Ali brummelte etwas wenig Freundliches, und Andrej konzentrierte sich ganz auf sein inneres Universum. Da … war etwas, nicht sehr weit vor ihnen, etwas das lauerte und hungerte, etwas Schleichendes und sehr Starkes.
Andrej schüttelte das Empfinden so gut es ging ab, zog sein Schwert und stellte mit Beruhigung fest, dass Abu Dun Ali kurzerhand aus dem Weg schob und sich ihm anschloss. Tatsächlich endete der Gang nach wenigen Schritten vor einer steilen Trümmerhalde aus Schutt und scharfkantigem Marmor, wo ein Teil der Decke niedergebrochen oder vielleicht auch absichtlich zum Einsturz gebracht worden war, um den Weg zu blockieren.
»Ayla?«, murmelte Abu Dun.
Die Frage galt Kasim, der seinem Blick auswich und mit einem zögerlichen Kopfnicken antwortete, das so aussah, als wollte er eigentlich mit den Schultern zucken.
Andrej konnte ihn verstehen. Weder Hasan noch Kasim hatten ihm verraten, was sie getan hatten, damit der ehemalige Hufschmied Aylas Spur aufnehmen konnte, doch er glaubte es bereits zu wissen. Aber er fürchtete, dass es nichts nutzte. Kasim gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber er war ein Abbild der
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