Nekropole (German Edition)
den Rücken laufen ließ.
»Gerecht?«, flüsterte er. »Du sagst, es ist gerecht, dass dieses unschuldige Kind für die Dummheit eines alten Mannes bezahlen soll? Was ist daran
gerecht?«
»Hochmut!«, stieß Altieri hervor. »Eine der sieben Todsünden! Hast du wirklich geglaubt, du könntest Gott betrügen?«
»Gott?« Clemens lachte böse. »Das ist nicht Gottes Werk! Ich weigere mich, an einen Gott zu glauben, der unschuldige Kinder für die Sünden ihrer Väter bestraft!«
»Die Sünden der Väter«, zitierte Altieri. »Bis ins siebente Glied.«
»Und
das
ist Gotteslästerung!«, versetzte Clemens. »Ich glaube nicht an einen Gott, der so rachsüchtig ist! Er ist eine Erfindung der Menschen, die Furcht verbreiten wollen statt Zuversicht! Der Gott, an den ich glaube, ist ein Gott der Liebe, kein Gott der Rache!«
Irgendwie gelang es ihm, zu schreien, ohne dabei auch nur die Stimme zu erheben, und Andrej spürte, wie bitter ernst er jedes einzelne Wort meinte. Aber was, dachte er, wenn er sich irrte, und es Altieri war, der recht hatte? Andrej hatte mehr als einen leibhaftigen Gott kennengelernt, und sie alle waren Götter gewesen, deren Macht aus der Kraft der Gebete derer kam, die an sie glaubten. Was, wenn es bei Altieris und Clemens’ Gott ganz genauso war, und die Menschen immer ganz genau den Gott bekamen, den sie verdienten?
»Es war ganz allein meine Schuld«, sagte Clemens noch einmal. Es klang wie eine Beschwörung. »Es war meine Sünde, und ich allein werde dafür bezahlen! Soll meine Seele in der Hölle brennen, wenn es sie denn gibt!«
Altieri erwiderte nichts mehr darauf, aber er schürzte verächtlich die Lippen, und sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Sie hat überlebt, doch um welchen Preis«, fuhr Clemens fort, und der Zorn wich genauso schnell wieder aus seiner Stimme, wie er sie übermannt hatte. »Der Tod lässt sich nicht betrügen. Doch selbst er wird sich der Macht des Herrn beugen müssen.« Er hielt Ayla den Becher hin. »Trink, mein Kind. Dann ist es vorbei.«
Ayla starrte ihn voller Angst an. In ihrem Gesicht arbeitete es, und die Schwärze in ihren Augen hatte noch einmal zugenommen. Andrej spannte sich, und es hätte nur eines kleinen Winks, eines Blickes von Ayla bedurft, und er hätte seinem Zorn auf Clemens freien Lauf gelassen. Aber Ayla tat nichts dergleichen. Andrej glaubte, ihre Not zu spüren, ihre Zerrissenheit, so, als würde sie einerseits am liebsten den Kelch beiseiteschlagen und so weit weglaufen, wie ihre Beine sie trugen – oder aber sich dem ergeben, was sie für ihr Schicksal hielt.
Clemens nickte aufmunternd, und Ayla erschauderte. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Becher griff, und sie zögerte noch ein allerletztes Mal … doch dann setzte sie den Kelch an und leerte ihn mit einem einzigen, langen Zug. Altieri gab einen Laut von sich, als hätte man ihm ein Messer in den Leib gestoßen, und verstummte wieder, als Ali ihm einen eisigen Blick zuwarf.
Das Mädchen setzte den Becher ab. Ein einzelner, blutfarbener Tropfen blieb in ihrem zerstörten Mundwinkel zurück. Sie versuchte, ihn mit der Zunge zu entfernen, aber es gelang ihr nicht, denn auch sie war zur Hälfte weggefault. Der Anblick wollte erneut ein leises Gefühl von Übelkeit in Andrej aufsteigen lassen, doch er kämpfte es nieder, zwang sich sogar, genauer hinzusehen, um auch ja keine noch so kleine Veränderung zu verpassen. Doch es gab nichts zu beobachten. Nichts in ihrem verheerten Gesicht veränderte sich. Nichts heilte. Nichts wurde wieder gut.
Aber vielleicht sollte er keine Wunder erwarten. Wenigstens nicht sofort.
»Was … passiert … jetzt?«, flüsterte Ayla. Was von ihren Lippen übrig war, begann zu beben, und Andrej hatte das unheimliche Gefühl, dass sich die Tätowierungen auf ihrer Wange bewegten. Dann erkannte er seinen Irrtum: Nicht alle dieser fein verästelten Linien waren auf ihre Haut gemalt, einige waren Spuren der Verwüstung, die ihrem Gesicht widerfahren war, ganz ähnlich dem furchtbaren Aderngeflecht, das das des unglückseligen Gardisten erobert hatte. Die Tätowierungen überdeckten es nur zum Teil, machten es zu einem Stück des filigranen Kunstwerkes, in das ihre Haut verwandelt worden war. Es war ein unheimlicher Anblick, der ihm ein bisschen Angst machte, zugleich aber auch so faszinierend war, dass es ihm schwerfiel, seinen Blick davon zu lösen.
»Hab Geduld, mein Kind«, sagte Clemens. »Gib dir ein wenig Zeit.«
»Gotteslästerung«,
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