Nekropole (German Edition)
gewechselt hatte, stellte Ayla ihren Widerstand ein und ließ sich den Rest der Strecke gehorsam heranführen. In drei oder vier Schritten Abstand blieb der Assassine stehen, als wagte er es nicht, sich dem weiter zu nähern, was da vor ihm auf dem Boden lag. Hasan streckte den Arm nach Ayla aus. Sie zögerte noch kurz und maß Andrej mit flehendem Blick. Es kostete ihn all seine Kraft, ihm zu widerstehen. Aber er blieb auf der Hut. Wenn Clemens auch nur dazu ansetzte, ihr irgendein Leid zuzufügen, dann würde er ihn töten, ganz gleich, wer er in Wahrheit auch sein mochte, und was danach mit ihm geschah. Sein eigenes Leben war bedeutungslos. Nur Ayla zählte.
Jemand schrie. Aufregung entstand, irgendwo hinter ihm, und er meinte, Abu Duns Stimme zu erkennen. Aber auch das war ohne Bedeutung. Er sah nur Ayla.
Anscheinend hatte Clemens jedoch wirklich nichts Böses im Sinn. Er stand nur da und hielt dem Mädchen die Hand entgegen, und obwohl Andrej ihr ansah, dass sie große Angst hatte, erwiderte Ayla die Geste schließlich und ließ sich das letzte Stück von ihm führen. Clemens streckte die andere Hand Kasim hin, woraufhin dieser den Becher aufhob und ihm reichte.
Altieri keuchte. »Was erdreistet Ihr Euch? Kein Ungläubiger darf …«
»Kasim ist kein Ungläubiger«, fiel ihm Clemens ins Wort. »Niemand hier ist das, nicht einmal Andrej, auch wenn er es sich nun schon so lange einredet, dass er es selbst glaubt.«
»Aber was …?«, begann Altieri erneut, brach aber ab, als Clemens Kasim einen neuerlichen Wink gab. Der Schmied griff unter seinen Mantel und zog einen kleinen ledernen Trinkschlauch hervor, aus dem er wenige Schlucke einer dunklen Flüssigkeit in den Becher goss. Der intensive Geruch verriet Andrej, dass es sich um schweren roten Wein handelte.
»Das … das verbiete ich!«, keuchte Altieri. »Das ist Häresie! Ich lasse das nicht zu, hört Ihr? Hauptmann!«
Fernando – und auch Ruetli – versuchten tatsächlich, einen Schritt in Clemens’ Richtung zu tun. Ali spannte sich an, und Andrej rettete dem Gardisten wahrscheinlich das Leben, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte und kurz und so hart zudrückte, dass er mit einem dumpfen Wimmern auf die Knie sank.
»Hab keine Angst, mein Kind«, sagte Clemens. »Sie werden es nicht wagen, Hand an dich anzulegen. Deine Erlösung steht bevor – das habe ich dir versprochen, und ich halte mein Wort. Es endet, hier und jetzt.«
Es war kein Hohn in Clemens’ Stimme, natürlich nicht. aber seine Worte schürten Aylas Angst, statt sie zu beruhigen, das war unübersehbar – und wie sollte es auch anders sein! Doch sie kämpfte sie tapfer nieder und griff nach dem schwarzen Tuch vor ihrem Gesicht und nahm es herunter.
Abgesehen von Clemens selbst und Altieri war Andrej nicht der Einzige, der erschrocken die Luft einsog. Bisher hatte er ihr Gesicht nur ein einziges Mal ohne den Schleier gesehen, und auch das nur für einen Augenblick und nur im Profil. Nun aber sah er es ganz.
Sie war tatsächlich so schön, wie es der Anblick ihrer Augen erwarten ließen, doch das galt nur für die rechte Seite. Von der anderen grinste ihn das Antlitz des Todes an. Nicht im übertragenen Sinne, sondern im wörtlichen.
Dicht unterhalb der Stelle beginnend, die bisher von dem schwarzen Schleier verdeckt gewesen war, bis weit über ihr Kinn hinunter war ihr Fleisch wie von Säure zerfressen, so, dass an vielen Stellen der blanke Knochen zum Vorschein kam und das engelsgleiche Lächeln, das er sich so oft vorgestellt hatte, zu einem höhnischen Totenkopf-Grinsen wurde. Was von ihrem Fleisch geblieben war, das lebte nicht mehr, sondern war längst in Fäulnis übergegangen und sonderte Eiter und andere üble Flüssigkeiten ab, und nun, wo der Schleier nicht mehr da war, roch er wieder diesen leisen Verwesungsgeruch, den er schon mehrmals in ihrer Nähe wahrgenommen hatte. Altieri stieß ein halb ersticktes Keuchen aus und begann sich immer schneller zu bekreuzigen, und Fernando starrte das verheerte Gesicht über sich aus aufgerissenen Augen mit angehaltenem Atem an.
»Ich war nicht immer der Pontifex«, begann Clemens. »Bevor ich Kardinal wurde, war ich ein schwacher Mensch, anfällig für Sünden und die Verlockungen des Fleisches. Sie ist das Kind meiner Sünde, und ich bin ihr Vater …«
»Ihr
Vater
!« Altieris Stimme kippte fast über. »Aber das ist …«
»Ungeheuerlich?« Clemens nickte. »Ja, Bruder, das ist es. Aber Ayla kann nichts dafür. Ich
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