Nekropole (German Edition)
Tropfen aus der beschädigten Stelle liefen, als er ihn an Ayla weitergab. Sie sickerten wie Blut über ihre Finger und in ihre schwarzen Handschuhe, die daraufhin so eng an ihren Fingern klebten wie eine zweite, faltige Haut. Andrej fragte sich, was er wohl sehen würde, wenn sie die Handschuhe auszog und begriff zugleich, dass er sie tatsächlich noch nie ohne diese Handschuhe gesehen hatte, so wenig wie ohne ihren Schleier. War der Grund für beides vielleicht derselbe?
»Trink, mein Kind«, sagte Clemens. Ein ganz kleines bisschen klang seine Stimme befehlend, aber Andrej hörte auch die Angst darin. »Alles wird gut. Vertraue auf Gott.«
Ayla wollte es nicht. In ihrem verheerten Gesicht zu lesen war unmöglich, nun, wo es den barmherzigen Schleier nicht mehr gab, doch das musste er auch nicht, um zu wissen, welch entsetzliche Angst sie vor dem hatte, was vielleicht geschah, wenn sie es tat. Ihr Blick wurde flehend, aber Andrej wich ihm aus. Es kostete ihn jedes bisschen Kraft, das er aufbringen konnte.
Sie wusste, was ihr bevorstand, sie hatte es schon immer gewusst, dessen war sich Andrej in diesem Moment mit geradezu schmerzhafter Deutlichkeit bewusst. Clemens’ Tochter war bereit, sich in ihr Schicksal zu ergeben, und sie war es auch wieder nicht; sie war hin- und hergerissen zwischen Einsicht und Widerstand, zwischen Ergebenheit und Aufbegehren.
All das begriff Andrej, während sein Herzschlag aussetzte und sich die Hand, die sich bereits auf den Schwertgriff gesenkt hatte, verkrampfte, als wisse sie nicht, was sie tun sollte. Erneut hätte es nur eines einzigen Wortes Aylas bedurft oder auch nur einer winzigen Regung, und er hätte losgeschlagen, hätte sie gepackt und mit seinem Leben geschützt, solange er es vermocht hätte.
Aber sie sagte nichts, und auch die erwartete Geste des Widerstands blieb aus. Vielleicht war er ja auch nicht nötig. Vielleicht brachte der Kelch ihr ja wirklich die Erlösung von all ihrem Leiden.
Was, wenn ich ihr Verhalten die ganze Zeit über falsch gedeutet habe
?, durchfuhr es Andrej. Ayla musste gewusst haben, dass sie der Weg zu diesem Kelch durch ein Meer von Blut und Tränen führen würde. Viele Menschen wären daran zerbrochen. Ayla aber wäre am liebsten vor der Gewalt geflohen, hätte vielleicht sogar lieber ihrem Leben ein Ende gesetzt, als all das Leid in Kauf zu nehmen, das letztlich mit ihrem Schicksal verwoben war.
Kein Wunder, dass sie ihm immer wieder teils verzweifelte, teils flehende Blicke zugeworfen hatte …
Ayla setzte den Becher an und leerte ihn mit sehr kleinen, vorsichtigen Schlucken, und als sie fertig war, gab sie ihn Kasim zurück und benutzte diesmal den Handrücken, um den Wein von ihren Lippen zu wischen. Winzige Fetzen aus abgestorbener Haut und zerfallendem Fleisch blieben auf ihrem Handschuh zurück, und Andrej sah rasch weg.
Dann …
geschah etwas Unvorstellbares.
Andrej hätte damit rechnen müssen. Ein Teil von ihm hatte darum gebetet, dass genau das geschah, und er hätte ohne zu zögern sein Leben geopfert, nur, um dieses Bild zu sehen. Dennoch traf ihn der Anblick wie ein Schlag. Aylas Gesicht heilte, lautlos und so schnell, als vergingen vor seinen Augen Monate binnen Sekunden: Geschmolzenes Fleisch wuchs nach, verbrannte Haut glättete sich, als wären sie nie mit Flammen und Stahl in Berührung gekommen. Das schreckliche schwarze Spinnennetz unter ihrer Haut verschwand, und zu Andrejs nicht geringer Verblüffung geschah dasselbe auch mit den kunstvollen Tätowierungen, die die unversehrte Hälfte ihres Gesichts bedeckten. Sie verblassten, schienen in ihre Haut hineinzukriechen und waren dann ganz verschwunden, genau wie all die schrecklichen Verheerungen, die ihrem schönen Gesicht angetan worden waren. Das alles dauerte nur wenige Augenblicke, nicht mehr als die Dauer von drei oder vier ungläubigen Atemzügen, doch damit war es nicht vorbei.
Reglos stand das Mädchen da, wie erstarrt und ohne zu blinzeln oder auch nur zu atmen, dann erwachte es jäh aus seiner Lähmung, stieß einen leisen, überraschten Schrei aus und ließ den Kelch fallen, während sie zugleich um ein kleines Stück zurückwich. Kasim fing ihn geschickt und so behutsam auf, als handelte es sich um zerbrechlichen Kristall. Altieri, der mittlerweile wieder zu sich gekommen war, ließ ein ersticktes Krächzen hören, rappelte sich auf die Knie auf und hätte sich beinahe selbst die Augen ausgestochen, so hastig, wie er sich immer und immer wieder
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