Nekropole (German Edition)
bekreuzigte.
»Häresie!«, stammelte er. »Das ist das Werk des Teufels!«
Niemand beachtete ihn, nicht einmal Ruetli oder Fernando, die das Mädchen genauso fassungslos und entsetzt anstarrten wie alle anderen.
Der Einzige, der das nicht tat, war Clemens. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck unendlicher Trauer und großen Schmerzes. Tränen liefen aus seinen Augen und zeichneten glitzernde Spuren auf seine faltigen Wangen. Er hatte sich auf die Unterlippe gebissen, sodass sie zu bluten begonnen hatte, doch er schien es nicht zu spüren. Ayla machte einen weiteren halben Schritt zurück, hob die Hände vor das Gesicht und streifte die schwarzen Handschuhe ab. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, wie makellos und unversehrt die Finger darunter waren. Langsam und so zögernd, als fürchtete sie, glühendes Eisen zu berühren, hob sie die Hände und tastete mit spitzen Fingern über ihre Wangen, das Kinn, den Mund und die Nase und jeden Quadratzentimeter ihres Gesichts, immer und immer wieder, bis sie sich mit den Fingernägeln selbst zu verletzen begann und Blut über die gerade wieder gesundete Haut lief. Mit zwei schnellen Schritten war Andrej neben ihr, ergriff ihre Handgelenke und hielt sie fest. »Nicht«, sagte er sanft. »Du tust dir weh. Und dein Gesicht ist zu schön, um es zu verletzen.«
Und er meinte es ganz genauso. Aylas Gesicht war wunderschön, noch immer das eines Kindes, das aber schon einen Abglanz der wunderschönen Frau zeigte, die sie schon in wenigen Jahren sein würde. Er liebte sie, und plötzlich war ihm auch klar, dass er das vom allerersten Moment an getan hatte und für den Rest seines Lebens tun würde. Schon die sachte Berührung ihrer Handgelenke war beinahe mehr, als er ertrug. Sie war noch ein Kind, und das würde sie auch noch einige Jahre lang bleiben, aber welche Rolle spielte schon ein Jahrzehnt oder anderthalb für einen Mann wie ihn? Er konnte warten. Und während er es tat, würde er sie beschützen, und wenn es sein musste, den Teufel selbst herausfordern. Oder auch Gott.
»Bitte lass sie los, Andrej«, sagte Clemens hinter ihm.
Andrej dachte nicht daran, weder jetzt noch irgendwann, aber er trat immerhin einen halben Schritt zur Seite, sodass Clemens seiner Tochter wieder ins Gesicht sehen konnte, und das schien ihm zu genügen. Er wiederholte seine Aufforderung nicht. Es reichte ihm wohl, es gesagt zu haben.
»Ist es … vorbei?«, flüsterte Ayla. »Werden sie jetzt verschwinden und mich endlich in Ruhe lassen?« Ihre Stimme zitterte und stand kurz davor zu brechen, und doch war ihr Klang das Süßeste, was Andrej jemals gehört hatte, das Geräusch von Engelsflügeln, die seine Seele liebkosten. Er musste sich beherrschen, um sie nicht an sich zu ziehen und nie wieder loszulassen.
»Es wird alles gut«, sagte Clemens. »Das habe ich dir doch versprochen.«
»Hexerei«, stammelte Altieri. »Das ist das Werk des Teufels! Was hast du getan, Guido?«
»Aber du … du hast gesagt, dass es schlecht ist, was ich tue«, hauchte Ayla. »Du hast gesagt, es wäre böse.«
»Und du hattest Angst, ich würde dich deshalb bestrafen?« Clemens schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Oh, mein armes Kind. Wie könnte ich dich für etwas bestrafen, an dem ich ganz allein die Schuld trage? Gott bestraft nicht die Kinder für die Sünden ihrer Väter, ganz egal, was dumme alte Männer wie ich auch behaupten mögen.«
»Dann ist es … wirklich vorbei?«, fragte Ayla stockend. »Ich muss … muss nicht mehr töten?«
»Nein, mein Kind«, antwortete Clemens. »Das musst du nicht mehr. Nie wieder.«
»Töten?«, murmelte Andrej. »Was …?« Was sie damit sagen wollte? Als ob er das nicht wusste! Tief in sich hatte er es die ganze Zeit über gewusst, schon seit jener schrecklichen Nacht in Jaffa, in der er das erste Mal Zeuge dessen geworden war, was sie tat. Es war immer nur sie gewesen, und er hatte es immer gewusst. Aber es war so, wie Abu Dun gesagt hatte: Er hatte es nicht wissen wollen.
Und es spielte auch keine Rolle. Ayla war Ayla, und das war alles, was zählte. Es war gleich, was sie tat und wie viele Leben sie nehmen musste, um weiterzuexistieren. Es waren schließlich nur Sterbliche. Welchen Unterschied machte es schon, ob ihre jämmerliche Existenz einige wenige Jahre oder Jahrzehnte mehr oder weniger dauerte? Schon in hundert Jahren würde sich so oder so niemand mehr an ihre Namen oder auch nur ihre bloße Existenz erinnern.
»Nie mehr«, sagte
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