Nele Paul - Roman
versprechen sollte, garantierte Sachen, die man nicht garantieren konnte. Ich versprach dem Mädchen, das ich liebte, nichtsweniger, als dass ich sie retten würde. Irgendwann ließen ihre Krämpfe nach. Sie hörte auf zu zittern. Ihre Atemzüge wurden regelmäßiger. Ihre Tränen trockneten auf meinem Hals.
»Warum liebst du mich so?«, flüsterte sie.
Ich löste mich etwas, damit ich ihre Augen sehen konnte. »Soll ich alles aufzählen?«
Sie drehte ihren Kopf weg und sah zum Fenster. Ich wartete, dass sie mich wieder ansah oder etwas sagte. Tat sie nicht. »Tu ich doch schon immer«, sagte ich.
Sie sagte nichts. Also gut. Ich räusperte mich.
»Ich liebe dich, weil du lachst, wenn du dich erschreckst. Ich liebe dich für jedes überfahrene Tier, das wir zusammen begraben haben. Ich liebe dich für die Art, wie du November liebst. Ich liebe dich, weil du mich geliebt hast, als ich dick war. Ich liebe dich, weil du eine gute Mutter sein wirst. Ich liebe dich, weil …« Ich stand auf, ging um das Bett herum, kniete mich neben das Bett und verstellte ihr den Blick zum Fenster. »Ich liebe dich, weil ich deinetwegen ein besserer Mensch sein will. Du glaubst, du bringst die Dinge hier durcheinander, aber ich war noch nie glücklicher. Nele, ich liebe dich. So wie du bist. Du bist gut und liebenswert.« Ich nickte. »Ja, genau, liebenswert. Du bist wirklich aller Liebe wert – Mors, Anitas, Rokkos, Novembers und meiner.«
Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem linken Auge und lief über ihre Wange. Eine Hand kam unter dem Laken hervorgerutscht. Ich schob ihr meine entgegen. Unsere Finger glitten ineinander. Wir sprachen nicht, aber was ich in ihrem Blick sah, ließ mein Herz schneller schlagen. Hoffnung.
Wir saßen da, bis ihre Lider schwer wurden. Schließlich fielen ihr die Augen zu. Ich hielt ihre Hand und hörte zu, wie sie einschlief. Als sie tief atmete, ließ ich ihre Hand los und ging zum Fenster. Ich öffnete es und steckte meinen Kopfhinaus. Der Wind war kühl und frisch. Ich presste meine Augen zusammen, legte mir eine Hand auf den Mund und unterdrückte einen Schrei, der sich seinen Weg durch meine Brust bahnte. Ich sah sie als Dreijährige vor mir, wie wir uns im Sandkasten kennengelernt hatten. Ein kleines Wesen voller Neugier. Und doch hatte es in ihrem Leben Monster gegeben. Und ich hatte es nicht gemerkt. All die Jahre nicht. Die ganze Zeit war sie damit allein gewesen. Ein Gefühl von Schuld legte sich über mich. Hass schoss mir ins Blut, durchlief mich wie ein elektrischer Stoß. Die Haare auf meinen Armen richteten sich auf. Ich schmeckte Blut in meinem Mund und versuchte, meine Kiefer zu entspannen. Mein Atem ging stoßweise. Tränen schossen mir in die Augen. Ich gab die Gegenwehr auf, legte die Hände über meinen Mund und weinte still um eine Welt, in der Männer Kinder sexuell missbrauchten.
Wie konnten sie nur.
Wie konnten sie nur.
Jemand schrie. Ich öffnete die Augen. Unten ging eine Familie über die Wiese auf den Parkplatz zu. Vater, Mutter, Kinder. Sie hielten sich an der Hand. Die Kinder rissen sich los und stürmten laut lachend auf einen schwarzen Saab zu. Der Junge erreichte den Wagen als Erster und riss die hintere Tür auf, doch er wartete, bis seine kleinere Schwester ebenfalls den Wagen erreicht hatte. Er zögerte, bis sie die Tür auf der anderen Seite öffnete, dann kletterten sie zeitgleich ins Auto und schlugen jubelnd die Türen zu. Der Mann legte seinen Arm um die Schultern der Frau. Gemächlich spazierten sie auf den Wagen zu. Wahrscheinlich froh, eine ruhige Sekunde zu zweit zu haben, vielleicht müde von dem frühen Aufstehen und der Energie der Kinder, vielleicht bewusst, welch ein Glück sie hatten. Eine Familie. Eine glückliche Familie.
Ich wischte mir über die Augen und warf einen Blick über die Schulter. Neles Gesicht ruhte entspannt auf demKissen. Sie träumte nur nachts. Nachts, als er gekommen war. Hans. Einmal waren Nele und ich eine Woche alleine mit ihm an der Nordsee gewesen. Wir hatten mit ihm nackt gebadet und zu dritt im Zelt geschlafen. Und die ganze Zeit war das Monster dabei gewesen.
Unten rollte der Saab vom Parkplatz. Ich sah ihm nach, bis er auf die Hauptstraße einbog. Es war, als hätte die Welt ihre Farben verändert, und ich könnte die Konturen nicht mehr klar erkennen.
Ich ließ das Fenster offen, ging zum Bett zurück, setzte mich und nahm Neles Hand. Ich spürte ihren Herzschlag, fühlte, wie das Blut durch ihren Körper
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