Nelson, das Weihnachtskaetzchen
Mörderin genannt. Und er hatte gewollt, dass sie für immer aus seinem Leben verschwand. »Du bist nicht mehr meine Tochter!«, hatte er gesagt. Die Worte verletzten sie selbst heute noch, drei Jahre danach.
Mussten diese Dinge denn unbedingt wieder aufgewühlt werden?
Wenn sie ihren Vater wieder in ihr Leben ließ, würde es vielleicht weitere Verletzungen geben. Und sie wusste nicht, ob sie das ertragen würde.
Nachdenklich machte sie sich daran, das Mittagessen vorzubereiten. Es sollte Kohlauflauf geben. Wenn sie ihn mit viel Käse überbackte, würde vielleicht auch Max etwas davon essen. Allzu viele Hoffnungen machte sie sich allerdings nicht.
Sie dachte an ihren Besuch auf dem Weihnachtsmarkt und an die Frau, die sie dort gesehen hatte. Ihr Vater hatte sein eigenes Leben, das stand fest. Offenbar war es für ihn nicht so schwer gewesen, über Mutter hinwegzukommen. Hatte er es gar nicht für nötig gehalten, Anna wenigstens darüber zu informieren, dass er mit einer neuen Frau zusammen war? Wie stand sie denn nun da? Was wusste sie schon über die Veränderungen in seinem Leben?
Vielleicht war es doch besser, sich vorerst nicht zu versöhnen. Das alles war einfach zu schmerzhaft für sie. Außerdem hatte sie im Moment viel zu viele andere Probleme. Ihre Kinder entfernten sich von ihr, und mit Laura stritt sie nur noch herum. Klaus war zunehmend genervt von den ständigen Streitereien und machte sich immer häufiger heimlich davon. Anna verlor ihren Rückhalt in der Familie. Und nicht nur das. Sie sah hinüber zum Haus der Grünbergs. Anna hatte das Versprechen gebrochen, das sie Marie gegeben hatte. Das kleine Mädchen war bitter enttäuscht. Was war das denn für eine Lehre, die sie dem Kind da mit auf den Weg gab? Es zerriss ihr beinahe das Herz.
Sie fettete die Auflaufschüssel ein und schnitt den Kohl klein. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie musste hinaus. Weg von hier. So schnell wie möglich.
Eilig wusch sie sich die Hände, dann schrieb sie eine Notiz für die Kinder und legte sie neben die Auflaufschüssel. In der Gefriertruhe findet ihr Tiefkühlpizza. Sie ist unter dem Gemüse versteckt. Dann nahm sie ihren Mantel und verließ das Haus. Die eisige Luft war wohltuend. Sie setzte sich ins Auto und fuhr los. Ganz ohne Plan und ohne Ziel. Sie fuhr einfach ins Blaue und ließ ihre Gedanken schweifen.
Erst als sie die Avus bereits hinter sich gelassen und ins Brandenburgische hinausfuhr, hatte sie eine Idee. Sie bremste hart. Dann wendete sie den Wagen und fuhr zurück. Jetzt wusste sie, was sie tun konnte. Auch wenn sie die Probleme mit ihrer Familie nicht in den Griff bekam. Auch wenn sie sich mit ihrem Vater nicht versöhnen wollte.
Sie wollte Marie beweisen, dass das Wort eines Erwachsenen noch etwas wert war. Sie musste Nelson finden. Die Chancen standen nicht gut, aber sie wollte es wenigstens versuchen. Sie würde noch einmal alle Tierheime abfahren. Und danach wollte sie zum Alexanderplatz. Irgendwo musste eine Spur von Nelson sein. Und Anna schwor sich, sie würde ihn finden.
Gleich im ersten Tierheim wartete eine Überraschung auf sie. Seit ihrem letzten Besuch war beinahe ein Dutzend neuer Katzen eingetroffen, und der junge Mann im grünen Overall, der sie herumführte, machte nicht den Eindruck, als wäre das ungewöhnlich.
»Aber wo kommen die denn auf einmal alle her?«, fragte Anna perplex. »Oder wollen Sie mir sagen, das ist normal?«
»Bald ist Weihnachten. Deswegen.« Er lachte sarkastisch. »Urlaubs- und Weihnachtszeit sind hier Hochsaison. Da wollen die Leute weg und bringen ihre Haustiere ins Tierheim.«
»Wer bringt denn so etwas in der Weihnachtszeit übers Herz?«, fragte Anna erschrocken.
»Sie würden sich wundern. Kommen Sie hier lang, vielleicht ist Ihre Katze ja dieses Mal dabei.«
Doch von Nelson war keine Spur. Die vielen traurigen Katzen, die verstört in ihren Käfigen saßen, hatten keinerlei Ähnlichkeit mit ihm. Das war auch in den anderen Tierheimen so, obwohl es überall eine Menge Neuzugänge gab. Anna war beinahe froh, als sie das letzte Tierheim hinter sich gebracht hatte, auch wenn damit die Hoffnung, Nelson zu finden, schwand. Doch die Vorstellung, dass all diese Tiere ausgerechnet zu Weihnachten ausgesetzt wurden, war deprimierend. Sie konnte das kaum ertragen.
Im letzten Tierheim gab ihr die ältere Dame, die sie herumgeführt hatte, zum Abschluss noch einen Tipp. Sie setzte
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