Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
hatte, war beinahe mehr, als ich ertragen konnte. Flemming stand noch immer zehn Meter vor mir auf dem hölzernen Podest, absurderweise auch immer noch aufrecht und mit halb ausgestreckten Armen und leicht hin und her schwankend wie eine kopflose Vogelscheuche, die sich im Wind bewegt. Sein Schädel war verschwunden. Aus den zerfetzten Halsschlagadern sprudelte Blut wie aus einer gekappten Hauptwasserleitung, und irgendwelche Nervenstränge, die noch nicht kapiert hatten, dass sie keine Befehle mehr bekommen würden, sorgten dafür, dass die Arme nicht herunterfielen, sondern sich ganz im Gegenteil zitternd zu heben versuchten. Und dann …
… machte die kopflose Gestalt einen Schritt auf mich zu und hob die Hand, um damit auf mich zu deuten.
Und das war eindeutig zu viel. Ich weiß nicht, ob ich das Bewusstsein verlor — wahrscheinlich ist es gar nicht möglich, in Ohnmacht zu fallen und dabei aufrecht stehen zu bleiben, aber schließlich ist es auch ebenso unmöglich, dass eine kopflose Leiche noch einen Schritt tut und eine eindeutige Ich-kriege-dich-schon-noch-Geste in meine Richtung macht, oder? Mein Bewusstsein verabschiedete sich allerdings für einen Moment so vollkommen von meinen Gedanken, dass das Ergebnis dasselbe war.
Gnädige Dunkelheit hüllte mich ein. Die Horrorbilder erloschen, und ich hatte das Gefühl, in einen boden- und lichtlosen Abgrund zu stürzen; ein Fall, an dem nichts Erschreckendes war, sondern den ich begrüßte, denn ganz egal was mich dort unten erwartete: Es konnte nicht so schlimm wie die Wirklichkeit sein.
Dann war auch diese Sekunde vorbei. Das Kreischen von mittlerweile mehr als einer Stimme riss mich in die Wirklichkeit zurück, Schritte polterten an mir vorbei, und jemand versetzte mir einen derben Stoß, der mich zur Seite und so unsanft gegen einen Tisch taumeln ließ, dass ich mit einem schmerzhaften Keuchen die Luft zwischen den Zähnen einsog und endlich die Augen öffnete. Ed und Stefan rannten auf den Tisch zu, hinter dem der kopflose Flemming stand, aber das Schicksal hatte zumindest jetzt ein wenig Mitleid mit mir — der Stoß hatte mich so herumgewirbelt, dass ich nicht mehr in Flemmings Richtung sah und auch die beiden nur noch aus den Augenwinkeln wahrnahm.
Natürlich war es Stefan gewesen, der mich zur Seite geschubst hatte. Er hätte ebenso gut an mir vorbeirennen können, aber er gehörte eben zu den Menschen, die andere lieber beiseite stoßen, statt ihnen aus dem Weg zu gehen.
Trotz allem registrierte ich dieses winzige Vorkommnis sorgsam und schrieb Kurzstirn-Arnie einige weitere Minuspunkte gut. Hinter mir stürmten Ellen und Pummelchen heran, während Maria unter der halb aufgeschobenen Tür stehen geblieben war und ängstlich hereinblickte. Sie konnte unmöglich gesehen haben, was passiert war, aber ich vermutete, dass sie jedes ihr unbekannte Zimmer erst einmal von der Schwelle zögernd musterte, bevor sie sich hereintraute.
Ich weiß selbst nicht, warum — aber ich ließ Ellen an mir vorbeilaufen und streckte dann rasch die Hand aus, um Judith festzuhalten, die ihr dichtauf folgte. Zugleich versuchte ich, sie mit möglichst sanfter Gewalt so herumzudrehen, dass ihr der entsetzliche Anblick auf dem Podest erspart blieb.
»Was …?«, fragte sie unwillig, während sie sich zugleich mit einer instinktiven Bewegung loszureißen versuchte. Sie war erstaunlich stark, aber auch ich verstärkte automatisch den Griff um ihr Handgelenk.
»Sieh nicht hin«, sagte ich rasch. »Bitte!« Ich hatte Mühe, die wenigen Worte halbwegs verständlich hervorzuwürgen.
Die Hysterie flaute allmählich ab, aber dafür begann sich wühlende Übelkeit in meinen Eingeweiden breit zu machen. Ich war beinahe sicher, dass ich mich im nächsten Moment übergeben würde. Großer Gott, sein Kopf war explodiert! Einfach so!
Judith hörte tatsächlich auf, sich zu wehren, drehte aber dennoch sofort den Kopf und sah in die Richtung, in die Ed und Stefan gerannt waren. Als sie sich wieder zu mir herumdrehte, sah sie noch verwirrter aus als zuvor.
Wahrscheinlich schirmten die beiden Möchtegernsamariter Flemmings kopflosen Leichnam vor ihren Blicken ab. Ich begann in Gedanken Wetten darauf abzuschließen, welcher von den beiden dem anderen zuerst auf die Schuhe kotzen würde.
»Was ist los?«, fragte Judith verwirrt. Eine schmale, Missbilligung ausdrückende Falte erschien zwischen ihren Brauen. Ihre Stimme wurde schärfer. »Was soll der Unsinn?!«
»Du solltest da wirklich
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