Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
sofort tot gewesen sein. Ich glaube nicht, dass er überhaupt noch etwas gemerkt hat.«
»Aneurysma?«, erkundigte sich Judith. Ed, vermutete ich, wusste, was das war, während Stefan wahrscheinlich versuchte, das Wort in Gedanken langsam zu buchstabieren, um sich nicht allzu sehr zu blamieren, wenn er es aussprechen wollte.
»Eine geplatzte Ader im Gehirn«, erklärte Ellen. »So etwas kommt vor. Eine ziemlich heimtückische Geschichte, weil sie oft ohne die geringsten Beschwerden abläuft. Eine Stelle in der Venenwand wird dünn und der Druck darauf steigt ganz allmählich. Wenn die Patienten Glück haben, bekommen sie Kopfschmerzen, Sinnestrübungen, Ausfallerscheinungen …« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber manchmal eben nicht. Irgendwann wird der Druck zu groß.
Die Ader platzt … peng! Das ist ein bisschen so, als ob eine kleine Bombe direkt im Kopf explodiert. Es geht meistens sehr schnell.«
Ich sah mit einem Ruck hoch. Was hatte sie gesagt?
»Und das ist ihm passiert?«, fragte Ed.
Ellen schien meinen Blick zu spüren, denn sie drehte den Kopf und sah mich eine halbe Sekunde lang irritiert an, ehe sie sich mit einem neuerlichen Achselzucken wieder an Ed wandte und seine Frage beantwortete.
»Jedenfalls sieht es ganz danach aus. Endgültig festlegen kann ich mich natürlich nicht. Dafür ist der Notarzt zuständig. Vielleicht gehst du mal nachsehen, ob der Wirt schon angerufen hat. Ich meine, es ist nicht nötig, dass der Krankenwagen mit Blaulicht und quietschenden Reifen hier auftaucht.
Die Jungs riskieren ihren Hals weiß Gott oft genug, wenn es notwendig ist.«
Statt aufzustehen, drehte Ed nur den Kopf und warf mir einen auffordernden Blick zu, den ich aber geflissentlich ignorierte. Ich hatte genug damit zu tun, dazustehen und Flemmings Gesicht anzustarren. Ich hatte es gesehen, verdammt noch mal!
»Ja, das werde ich machen.« Ed klang eindeutig beleidigt.
Er stand zwar auf und ging, warf mir aber im Vorbeigehen einen vernichtenden Blick zu, und ich trat vorsichtig einen halben Schritt näher und beugte mich weiter vor.
Flemmings Gesicht blieb, wo es war.
Die bläuliche Farbe und die weit aufgerissenen Augen verzerrten den Eindruck natürlich, aber es musste zu Lebzeiten ein sehr sympathisches Gesicht gewesen sein, gut aussehend, fast hübsch, ohne dass es dadurch irgendwie an Männlichkeit einbüßte, und irgendwie wurde mir erst in diesem Moment klar, dass ich in das Gesicht eines Toten blickte. Ich richtete mich hastig wieder auf und drehte mich halb herum, um den Boden zwischen meinen Füßen anzustarren. Es war kein Blut darauf und in den abgewetzten Dielen steckten auch keine Knochensplitter.
»Wirklich kein schöner Anblick«, sagte Ellen. »Ich weiß.
Das ist nichts für jeden.«
Hätte Stefan dasselbe gesagt, hätte ich ihm wahrscheinlich eine aufs Maul gegeben, ganz egal ob er mich hinterher auf die Größe eines Taschenbuches zusammenfaltete oder nicht, aber das Mitgefühl in Ellens Stimme klang so echt, dass ich einen flüchtigen Hauch von Dankbarkeit empfand und mit einem angedeuteten Nicken antwortete. Vielleicht hatte ich sie doch falsch eingeschätzt — wie so ziemlich jeden hier, mich eingeschlossen. Was ich für Kälte hielt, das war möglicherweise nur ein Schutzpanzer, den sich jeder zulegte, der in einem solchen Beruf arbeitete.
»Vielleicht gehen wir nach draußen und warten dort auf den Arzt«, schlug Ellen vor. »Hier können wir sowieso nichts mehr tun.«
Anscheinend war ich nicht der Einzige, der dankbar für diesen Vorschlag war, denn auch Stefan und Judith wandten sich eine Spur hastiger um als unter normalen Umständen üblich und traten von der Empore herunter.
Ellen tat noch irgendetwas am Gesicht des Toten, was ich nicht genau erkennen konnte und wollte, und schloss sich uns dann an. Sie war die Letzte, die den Tanzsaal verließ.
Judith wartete, bis sie an ihr vorbeigegangen war, und zog dann die Schiebetür vollständig hinter sich zu.
Ed stand hinter der Theke und telefonierte, während ein immer nervöser wirkender Wirt neben ihm von einem Bein auf das andere trat und vor Neugier wahrscheinlich gleich platzen würde. Maria hatte am gleichen Tisch Platz genommen, an dem wir alle zuvor gesessen hatten. Sie sah noch unglücklicher aus als bei ihrer Ankunft (und übrigens kein bisschen neugierig) und Stefan und Ellen steuerten ebenfalls auf den Tisch zu.
Ich wartete, bis sich Judith herumgedreht hatte und an mir vorbeiging, und streckte die Hand
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