Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
ich bereute mittlerweile schon fast, überhaupt hierher gekommen zu sein, Euromillionen hin oder her —, aber meine Füße setzten sich plötzlich wie von selbst in Bewegung und trugen mich auf das Podest zu. Judith sah flüchtig in meine Richtung, runzelte die Stirn und blickte dann wieder interessiert nach unten, und sogar mein Magen begann sich einigermaßen zu beruhigen. Mir war noch immer übel, aber ich wusste ja nun, welcher Anblick mich erwarten würde, und versuchte mich innerlich dagegen zu wappnen. Vermutlich war es ohnehin besser, wenn ich mich der Realität stellte, statt es meiner Fantasie zu überlassen, sie sich auszumalen.
Dennoch wurden meine Schritte langsamer, je mehr ich mich dem Podest näherte. Meine Knie fühlten sich jetzt nicht mehr an, als wären sie aus Pudding, aber dafür begannen meine Hände immer heftiger zu zittern. Ich blieb stehen, bevor ich den letzten Schritt auf die Empore hinauf tun konnte, und versuchte über die Rücken der anderen hinweg einen Blick auf Details zu erhaschen, die ich weniger sehen wollte als irgendetwas anderes auf der Welt.
Ed sah hoch. Er sah immer noch verärgert aus, aber ich glaubte nun auch so etwas wie Verachtung in seinen Augen zu lesen. »Verstehst du was davon?«, knurrte er mich an.
»Wovon?« Ich klang schon wieder hysterisch, wie ich mir selbst eingestehen musste. Von Vivisektion ? Bestimmt nicht.
»Von erster Hilfe, verdammt«, antwortete Ed.
Eduard. Ich beschloss, ihn in Zukunft nur noch Eduard zu nennen.
»Erster Hilfe … ?« Ich machte einen weiteren halben Schritt und konnte jetzt Flemmings Schultern und den Rest seines Halses erkennen. Mein Herz hämmerte und der See aus bitterer Galle unter meiner Zunge begann überzulaufen.
Ich musste immer schneller schlucken, wodurch ich der Übelkeit in meinem Magen natürlich nur noch neue Nahrung gab, und das im wortwörtlichen Sinne. »Ich glaube nicht, dass er noch erste Hilfe …«
Ed bewegte sich ein winziges Stückchen weiter zur Seite und ich schluckte den Rest des Satzes herunter und riss ungläubig die Augen auf.
Flemming lag in sonderbar verkrümmter Haltung auf dem Rücken. Er war so unglücklich auf den linken Arm gefallen, dass er ihn sich vermutlich gebrochen hatte, aber ich glaubte nicht, dass das im Moment sein Problem war. Seine weit offen stehenden Augen waren trüb und ohne eine Spur von Leben, und sein Mund sah aus, als hätte er noch versucht, etwas zu sagen, aber nicht mehr genügend Luft dazu bekommen. Seine Gesichtshaut war erstaunlicherweise nicht weiß, sondern schimmerte in einem kränklichen Blaugrau, und aus seiner Nase war ein einzelner Blutstropfen gelaufen, der eine gezackte Spur zu seinem Mundwinkel und dann zum Kinn hinuntergezogen hatte und bereits zu gerinnen begann.
Alles in allem war sein Gesicht aber nahezu unversehrt.
Es war nicht davongeflogen, und sein Kopf war auch nicht explodiert, sondern saß noch genau da, wo er hingehörte.
»Kein schöner Anblick, wie?« Eds Stimme klang plötzlich fast mitfühlend, und als ich verwirrt den Kopf wandte, war der Ausdruck von Verachtung in seinen Augen etwas Mitleidvollem gewichen, das mich beinahe noch mehr anwiderte.
Allerdings verschwendete ich keinen Gedanken darauf, sondern konzentrierte mich wieder auf Flemming. Der Anwalt war tot, das sah man auf den ersten Blick und jenseits allen Zweifels, aber er war eben nur tot, nicht explodiert und im gleichen Moment zum Zombie geworden.
»Ich fürchte, er hat Recht«, sagte Ellen seufzend. »Erste Hilfe bringt uns hier nicht weiter. Der Mann ist tot.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Ed. »Er kann genauso gut…«
»Weil ich Ärztin bin«, unterbrach ihn Ellen. »Daher will ich das wissen.«
Ed blinzelte. Auch Stefan sah kurz und überrascht auf und musterte das bildschöne Gesicht der jungen Frau mit einer neuen Art von Blick und Judith deutete nur ein Achselzucken an. Nur ich starrte weiter auf den Toten hinab.
Wieso war sein Kopf noch da? Ich konnte mir das doch nicht alles nur eingebildet haben. Ich hatte es gesehen, verdammt noch mal!
»Ärztin?«, vergewisserte sich Ed.
»Internistin, um ganz genau zu sein«, antwortete Ellen.
Vielleicht war das auch die Erklärung für die Kälte in ihrer Stimme. Sie musste den Anblick von Toten gewohnt sein.
Dennoch — etwas mehr Anteilnahme wäre in diesem Moment vielleicht doch angebracht gewesen.
»Das sieht mir ganz nach einem Aneurysma aus«, fuhr sie fort. »Da kann man nichts machen. Er muss
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