Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
hatte, angelehnt hatte, und dass es lediglich ihrem Gegendruck gegen meine Brust zu verdanken war, dass ich noch nicht einfach vornüber gekippt war, so weich und kraftlos fühlten sich meine Beine an. Vor meinen Augen begannen die Konturen der Becken, der stählernen Regale und der makaberen Einmachgläser erneut zu verschwimmen und umherzutanzen; ich erkannte meine Umgebung nur noch wie durch einen gräulichen Schleier hindurch und vernahm Ellens Stimme, die in diesen Sekunden erneut die hervorragenden, wissenschaftlich betrachtet höchst wertvollen Präparate zu loben begann, für eine kleine Weile nur noch gedämpft, wie durch einen halbmeterdicken Wattewall.
»Ich will hier raus«, hörte ich Judith in meinem Arm leise sagen, als meine Sinne wenigstens eine relative Schärfe zurückerlangt hatten. Ich stellte fest, dass Carl Ellen den Strahler wieder abgenommen und damit ziellos zwischen den Regalgängen in dem gewaltigen, runden Raum herumzuirren begonnen hatte. Judith trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und klammerte sich ein wenig fester an mich.
»Wir sind ganz nah dran.« Carl dachte überhaupt nicht daran, zu uns zurückzukehren, sondern betrachtete in einer Mischung aus Unglauben, perverser Schaulust und Erregung immer neue Gläser mit präparierten Gliedmaßen, Köpfen, Augen und Organen, nahm einige sogar in die Hand und drehte sie, um sie von allen Seiten betrachten zu können, wobei ich bemerkte, dass er die kleine Waffe in den Hosenbund geschoben hatte, sie in unregelmäßigen, kurzen Abständen aber immer wieder in die Hand nahm und sie einen Augenblick in unsere Richtung hielt, um jeden Fluchtgedanken möglichst im Keim zu ersticken. Ich wollte nicht wissen, was geschah, wenn der Wirt ausrastete und in dieser grauenhaften Anatomiesammlung wild um sich zu schießen begann. »Clever waren die feinen Herren, das haben sie sich wirklich fein ausgedacht«, sagte der Wirt. »Meinen Respekt!«
Judith bedachte mich mit einem zweifelnden Blick, aber ich konnte nur hilflos den Kopf schütteln. Auch ich verstand nicht, worauf Carl hinauswollte, aber es interessierte mich auch eher begrenzt. Ich wollte weg von hier, ganz egal wohin, einfach nur hier heraus, und zwar sofort.
»Das ist die perfekte Tarnung. Darauf muss man erst einmal kommen!« Carl lachte hässlich, legte die Lampe für einen Moment auf einem Regal ab und griff mit beiden Händen nach einem großen Glaszylinder, der den Kopf eines wahrscheinlich vier- oder fünfjährigen Kindes enthielt. Ich konnte und wollte keine Details ausmachen, sondern schloss diese Erkenntnis lediglich aus der Größe des Kopfes, den der Wirt nun in dem Behälter zu drehen begann. »Gibt es ein besseres Versteck für Zahngold als ein Gebiss?« Carl grinste. »Da staunt ihr Bauklötze, was?
Statt mit offenem Mund da herumzusabbeln, solltet ihr euch daran machen, die Dinger aufzubrechen. Ich bin sicher, das Zahngold der Nazis ist –«
»Du bist doch pervers!« Judith schrie fast.
»Ich denke eher, er hat den Verstand verloren«, wandte Ellen kopfschüttelnd ein. »Wenn er denn je einen hatte.«
»Es mag sein, dass meine akademischen Kenntnisse ein bisschen hinter den deinen herhinken.« Carl stellte den gläsernen Zylinder so energisch in das Stahlregal zurück, dass es schepperte und ich instinktiv den ohnehin nur flach gehenden Atem anhielt, gefasst darauf, dass der Behälter zerspringen und ein abgetrennter, kindlicher Kopf mit schreckensweit geöffneten Augen vor meine Füße kullern würde, aber er hatte Glück und das Glas brach nicht.
»Bildung und Intelligenz sind zwei ganz verschiedene Schuhe, Frau Doktor Neunmalklug«, fuhr er die Ärztin an, wobei er Waffe und Taschenlampe wieder an sich nahm und beides zielgenau auf Ellen richtete. »Offenbar bin ich der Einzige, der wirklich verstanden hat, wieso diese so genannte Forschungssammlung hier überhaupt existiert.«
»Warum?« Ich glaube, ich fragte nur danach, weil ich meine eigene Stimme hören wollte, um sicherzugehen, dass ich noch in der Lage war zu sprechen, wenn ich mir nur ausreichende Mühe gab. Ich schaffte es zwar, aber dieses einzige Wort genügte auch, ein schmerzhaftes Kratzen in meinem Hals zu verursachen, das nur langsam wieder nachließ.
»Welcher normale Mensch geht nur einen einzigen Schritt weiter, wenn er ein solches Horrorkabinett betreten hat, hm?«, fragte der Wirt herausfordernd und hob eine Braue, als erwartete er, dass wir ihm in der nächsten Sekunde allesamt mit
Weitere Kostenlose Bücher