Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
Gesehene zu verarbeiten, als mich zu weigern, es mir vollständig anzusehen und meiner Fantasie zu überlassen, was es aus dem Möglichen machte. In diesem Fall aber hätte meine Vorstellungskraft bei weitem nicht an das herangereicht, was ich in dem mit einem dicken Glasdeckel abgedichteten Behälter erspähte.
    Dort waren zwei vollständig präparierte Körper eingelagert worden, Kinderkörper von allerhöchstens neun oder zehn Jahre alten Jungen, die auf den ersten Blick wie siamesische Zwillinge wirkten, sich auf den zweiten (Warum sah ich nicht endlich weg? Ich konnte das alles nicht mehr ertragen!) aber als chirurgisch aneinander montiert entpuppten. Man hatte den größten Teil der Haut an ihrem Rücken entfernt und die Kinder dann mit hässlichen schwarzen Fäden, die sich noch immer durch die dicken, wulstigen Narben zogen, Rücken an Rücken aneinander genäht. Hätte Frankenstein Söhne gehabt, vielleicht hätten sie diesen armen kleinen Kreaturen sehr geähnelt.
    »Warum tun Menschen so etwas?«, flüsterte Judith tonlos. Ich glaubte nicht, dass sie wirklich eine Antwort auf ihre Frage erwartete. Ellen lieferte sie ihr trotzdem.
    »Erinnerst du dich an die Berichte über diesen Doktor Mengele und Co?« Ellen hatte ihren Schrecken überwunden und zuckte mit den Schultern. »Irgendjemand hatte wohl die irrwitzige Idee, auf diese Weise einen organischen Blutaustausch zu ermöglichen und die Konsequenzen eines solchen zu beobachten. In diesem Fall war die Konsequenz offenbar, dass beide Kinder verstorben sind, noch bevor die Wunden verheilen konnten.«
    »Da drinnen sind auch Zwillinge.« Carl hatte eine weitere verstaubte Platte mit dem viel zu langen Ärmel seines Trainingsanzuges frei gewischt und bedeutete Ellen mit einem schwachen Wink, in das Becken zu leuchten. Er zitterte sichtlich und atmete schnell.
    Fast gewaltsam riss ich meinen Blick von den Frankenstein-Kindern los und nahm die Entdeckung des Wirtes in Augenschein. Im ersten Moment verstand ich nicht, was Carl gemeint hatte, denn ich entdeckte lediglich einen in Formalin eingelegten Kinderkörper in der Keramikwanne unter der Glasplatte: ein höchstens zehnjähriges, blondes Mädchen, dessen langes blondes Haar zu Zöpfen geflochten und von rosafarbenen Schleifen zusammengehalten auf ihren Schultern ruhte. Man hatte darauf verzichtet, dem kaum einen Meter zwanzig großen Mädchen nach seinem Tod die Augen zu verschließen, und sein Blick spiegelte auch jetzt, gute sechzig Jahre nach seinem Ableben, reine Todesangst wider. Die Bauchdecke des Kindes war vollständig entfernt worden.
    Sie war hochschwanger mit Zwillingen gewesen, als sie starb. Die Ungeborenen ruhten noch immer mit den Köpfen Richtung Geburtskanal und fest aneinandergeklammert, als spürten sie die schreckliche Angst ihrer viel zu jungen Mutter und versuchten einander zu halten und zu schützen, in dem kleinen, zierlichen Leib.
    Ich hatte genug gesehen. Was auch immer in den restlichen Keramikwannen ruhte, verdiente es nicht, nach all dem Leid und dem menschenunwürdigen Begräbnis in einer stinkenden Konservierungsflüssigkeit durch eine zentimeterdicke Glasplatte hindurch begafft zu werden. Es war respektlos und es verbrannte meine Seele, die schon jetzt, obgleich wir gerade einen Bruchteil der makaberen Sammlung in Augenschein genommen hatten, einen wahrscheinlich irreparablen Schaden davongetragen hatte.
    Ich war den Tränen nahe über so viel abartige Grausamkeit, konnte kaum glauben, dass dieses Feuerwerk des Grauens von Menschenhand geschaffen sein sollte. Langsam, aber mit absoluter Bestimmtheit, setzte sich in mir die Erkenntnis durch, dass für das alles hier hunderte von Menschen nicht einfach nur gestorben, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eigens für diese abartige Sammlung ermordet worden waren. Man hatte hunderte von Kindern und Jugendlichen, selbst Kleinkinder, Babys und Föten, für diese grausame Ausstellung im Namen zweifelhafter Wissenschaft getötet!
    Es war schlimmer als alles, was ich in meinem gesamten Leben, selbst in dieser tragischen Nacht, je gesehen hatte, nicht einmal die entstellte Leiche Eds und Stefans grausames Sterben vor meinen Augen in der Küche kam an das heran, was dieses Horrorkabinett in mir auslöste. Meine Augen brannten, ich vermochte noch immer nicht wieder richtig zu atmen, und ich bemerkte erst in diesem Augenblick, dass ich mich an Judith, die ich in einer vermeintlich schützenden Geste in den Arm genommen

Weitere Kostenlose Bücher