Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
isolierten Starkstromkabel entlang wandern, das durch die Wand, in der die Tür eingelassen war, in Richtung der Forschungssammlung II verlief und auf der anderen Seite wieder heraustrat. Dort wand es sich wie ein hässliches Reptil unter der Decke der Anatomieausstellung entlang und verschwand irgendwo in der Finsternis des riesigen runden Raumes unter dem türenlosen Turm wieder im Putz. Bisher war es mir nicht aufgefallen – der Schrecken des Horrorkabinetts hatte mein Auge für gewisse Details sozusagen geblendet. Ich fragte mich, wohin dieses Kabel führen mochte und wozu man in einem Keller oder in einem alten Burgturm wohl zwei Generatoren gebraucht hatte, die wahrscheinlich ausreichten, um einen ganzen Festivalplatz über Wochen hinweg vollständig zu versorgen, ohne sie auch nur ein einziges Mal nachzufüllen. Und wie viele Menschen man auf einen Schlag mit dem Elektrizitätsertrag einer einzigen dieser mehr als mannshohen Maschinen töten konnte.
Ich hatte keine Ahnung, wie es denn gewesen war, wozu diese Apparatur im so genannten Raum XIII gedient hatte, aber da war etwas, das gelegentlich aus den staubigen grauen Winkeln meines Unterbewusstseins auftauchte und sich wie ein scheues Tier wieder in seinen Bau zurückzog, sobald ich ihm meine Aufmerksamkeit zuwandte.
»Weiter!« Der Wirt scheuchte uns mit dem Lauf der Achtunddreißiger auf einen weiteren, rechts angrenzenden Durchgang zu, dessen Tür weit offen stand und ebenfalls schlicht mit einer Nummer, mit Raum XIV, gekennzeichnet war. »Wir sind ganz nah dran. Es können nur noch Sekunden sein, die uns von dem Schatz trennen, also los jetzt! Ich habe viel zu lange darauf gewartet!«
Ich begann mich dafür zu hassen, dass Carl noch lebte.
Ich hatte viel zu viele Gelegenheiten verstreichen lassen, in denen ich ihn hätte überwältigen und mit seiner eigenen Waffe erschlagen oder mit bloßen Händen erwürgen können, zum Teufel noch mal. Er hatte zwischenzeitlich regelrecht vergessen gehabt, dass er sich drei Geiseln genommen hatte, die es permanent zu bewachen galt. Er hatte sich jedoch so sehr vom Schatzfieber mitreißen lassen, dass ich nichts anderes mehr hätte tun müssen, als ihm einen Schlag in den Nacken zu versetzen, der ihn zu Boden gehen ließ. Nun aber hatte er sich – und vor allen Dingen uns – wieder unter Kontrolle, und bei jedem Schritt, den ich vor den anderen setzte, konnte ich die Bedrohung, die von der Schusswaffe in der Hand dieses Wahnsinnigen ausging, nahezu körperlich in meinem Nacken spüren. Ich war ein Idiot, ein Feigling, ein Weichei; ganz genau das, was meine Schul- und Studiengefährten mich immerfort geschimpft hatten. Aber damals war es um die zweifelhafte Ehre gegangen, sich mit über zwei Promille Alkohol im Blut auf einem Skateboard an das letzte Abteil einer Straßenbahn zu klammern oder bei Minustemperaturen nackt durch die Innenstadt einschließlich der größtmöglichen Menge von Kaufhäusern zu sprinten, ehe die Polizei eingreifen konnte. Um solche und noch wahnsinnigere und waghalsigere Dinge, im jugendlichen Irrglauben, damit dem anderen Geschlecht zu imponieren, war es gegangen, als man beispielsweise sturztrunken auf Baugerüste kletterte und in luftiger Höhe Rockballaden grölte. Jetzt aber ging es vielleicht um Leben und Tod. Ich verspürte den Drang, mir selbst in den Hintern zu beißen, aber mein Hals war zu kurz, und außerdem ging es mir auch so schon beschissen genug, ohne dass ich meinen selbstzerstörerischen Bedürfnissen nachgab.
Der angrenzende, unwesentlich größere Raum musste einmal eine Werkstatt gewesen sein. Ein morscher hölzerner Hocker stand vor einer stählernen Werkbank, auf der allerlei weit überholt wirkendes Werkzeug zurückgeblieben war – klobige, unhandlich wirkende Gerätschaften, die sich aus der Perspektive des Hightech-Zeitalters nur noch mühsam als Bohrer, Lötkolben und Ähnliches identifizieren ließen. Es gab eine Unmenge von Zangen, Schraubendrehern, Engländern und anderem
Handwerkszeug und außerdem ein fast die gesamte linke Wand einnehmendes, massivhölzernes Möbelstück, das mit seinen Dutzenden von Fächern und Schubladen an einen Apothekerschrank erinnerte, in welchem sich aber keine Medikamente, Kräuter und chemischen Substanzen häuften, sondern alte Keramikwiderstände, Sicherungen und bunte Kabel verschiedenster Art.
Für Ellen bedurfte es nur eines kurzen Blicks, um zwar ebenso wenig wie ich über den Zweck dieser Werkstatt urteilen zu
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