Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
können, zumindest aber das wahrscheinliche Alter der herumliegenden Instrumente, Gerätschaften und Zubehörteile zu bestimmen.
»Ganz fernab der Realität war unser graues Mäuschen mit seinen Spekulationen anscheinend doch nicht.« Sie trat an das Regal heran und drehte im langsam nachlassenden Licht der Taschenlampe einige kleine Teile prüfend zwischen den Fingern. »Das Zeug ist jedenfalls nicht aus Kriegszeiten. Diese Werkstatt muss noch bis weit in die Fünfzigerjahre hinein genutzt worden sein, möglicherweise noch länger.«
»Woher willst du das so genau wissen?« Judith schüttelte den Kopf. Zählst du das an der Dicke der Staubschicht ab? In Millimetern gemessen und umgerechnet?«
»Du hast ja keine Ahnung, womit man während seines Studiums an den Universitäten unseres Wohlstandslandes abgespeist wird«, entgegnete Ellen. »Gerade die Gerätschaften für Medizinstudenten sind zumeist hoffnungslos überholt. Ich erkenne Widerstände und Sicherungen aus den Fünfzigern, wenn ich sie sehe, Schätzchen. Oder glaubst du, der Bildungsminister hat uns einen Elektriker gestellt, wenn mal was kaputtgegangen ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr könnt euch kein Bild davon machen, wie beliebt die Physikstudenten in unseren Kreisen waren.«
»Das ist ungemein spannend«, fiel Carl gereizt ein und trat einen Schritt beiseite, um den Weg, den wir hierher gekommen waren, für uns freizugeben und auffordernd durch die offen stehende Tür zurück zur Anatomiesammlung zu blicken. »Hier geht es nicht weiter. Zurück zum anderen Eingang«, befahl er harsch.
Zu meiner zusätzlichen Verunsicherung stellte ich fest, dass die Batterien des Handscheinwerfers nicht mehr lange durchhalten würden. Ich bemühte mich um eine schnellere Gangart, was in Anbetracht meiner zitternden, butterweichen Knie nicht gerade einfach war. Es war schlimm genug, dass wir überhaupt durch dieses grauenhafte Labyrinth zu streifen gezwungen wurden – ich wollte mir nicht vorstellen, wie es sein würde, dies auch noch in vollkommener Dunkelheit zu tun.
Ellen drückte die Klinke der mit gotischen Lettern mit Schallraum beschrifteten, stählernen Tür nieder, von der wie von scheinbar allen anderen hier unten im alten Teil des Labyrinths graue Farbe abblätterte und stellenweise den Blick auf rostiges, nichtsdestotrotz durchaus solide wirkendes Metall freigab. Meine Blicke verharrten auf ihren Händen, folgten jeder noch so winzigen Bewegung ihrer Finger, ihres Armes, ihrer Beine, sogar der schwachen Bewegung ihrer feuerroten Haarsträhnchen in dem windstillen Gemäuer, nur, um mich auf irgendetwas abseits der Keramikwannen zu meiner Seite und der Exponatbehälter in den hohen Regalen, auf etwas Lebendiges, zu konzentrieren.
Die Tür führte in einen kaum besenkammergroßen, leeren Raum, an den eine steinerne, gekrümmte Treppe grenzte, die nach einer scharfen Biegung, die zurückzulegen der Wirt uns nicht eigens auffordern musste, über dem Anatomiemuseum in scheinbar schier unendliche Höhe ragte. Immer weiter in die Finsternis hinein, immer höher und immer rechtsherum im Kreis ... Mir schwindelte. Ich verlangsamte meine Schritte und kämpfte gegen das plötzliche verrückte Bedürfnis an, gleichzeitig nach oben zu rennen, weil ich aus irgendeinem Grunde das Gefühl hatte, es tun zu müssen, und nach unten zu flüchten, weil ich mir sicher war, dass ich diese Treppe nicht zurücklegen wollte, dass ich sie nicht hinaufgehen durfte.
Obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, wohin sie führte und was zum Teufel bloß ein Schallraum war, hatte ich das Gefühl, diesen Weg zu kennen, ihn schon mehr als einmal gegangen zu sein. Ich legte die steinernen, steil nach oben führenden Stufen in bewusst gleichmäßigen, eher langsamen Schritten zurück, und trotzdem verspürte ich bereits nach wenigen Augenblicken ein leichtes Stechen in meinen Seiten, als sei ich gerannt. Verunsichert wandte ich den Blick in Judiths Richtung, die noch immer meine Hand hielt und keinen halben Schritt hinter mir ging. Dabei stellte ich beruhigt fest, dass ihr Haar blond und ihre Augen blau waren, dass sie kaum jünger war als ich und ein paar Pfund zu viel auf den Rippen hatte.
Natürlich. Hatte ich etwas anderes erwartet?
Miriam. Auf einmal schoss mir der Name des Mädchens wieder durch den Kopf. Miriam, das Mädchen, das sich von den Zinnen gestürzt hatte, das Kind aus meinen Träumen ...
Ein eisiges Frösteln durchfuhr meinen Körper. Ich schüttelte mich
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