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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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die sich über Ellens Nasenwurzel gebildet hatte.
    Die Ärztin legte das seltsame Gerät, mit dem sie die Wundränder behandelt hatte, beiseite und griff nach etwas, das wie eine übergroße Pinzette aussah. Vorsichtig schob sie es tief in ihren Bauch. Aus dem kleinen Lautsprecher unter dem Monitor erklang schweres Atmen. Ellens cremefarbene Latexhandschuhe waren dunkel vor Blut und bildeten einen scharfen Kontrast zu der nahezu weißen Haut auf ihren Armen. Noch immer hantierte sie mit dem pinzettenähnlichen Instrument in der gewaltigen offenen Wunde herum, die sie sich selbst mit dem Skalpell zugefügt hatte. Die Ärzte und Schwestern, die sie im Halbkreis umstanden, sahen ihr bei ihrem Tun schweigend zu.
    Ich war mir nicht sicher, ob ich sie für ihren Mut und ihre Tapferkeit bewundern oder sie für die Abgebrühtheit verachten sollte, die wohl selbst bei einer erfahrenen Chirurgin wie ihr erforderlich war, um eine derartige Operation am eigenen Leib durchzuführen. Auf jeden Fall war mir ausgesprochen übel, und die scharfe Magensäure, die in meine schier ausgetrocknete Kehle stieg, brannte schmerzhaft in meinem Hals. Was zum Teufel konnte bloß einen Menschen, Medizinstudium hin oder her, dazu bewegen, sich selbst den Bauch aufzuschlitzen? Konnte ihr Berufsstolz wirklich so weit gehen, dass sie niemand anderen an ihren Körper heranließ als sich selbst, oder war es vielmehr die Angst, die sie dazu trieb, sich so grausam zu behandeln? War das, was sich auf dem Monitor vor meinen Augen abspielte, letzten Endes die Medizinervariante des japanischen Harakiri? Oder war es vielleicht ganz anders, und Professor Sänger hatte ihr irgendetwas angetan? Vielleicht bedrohte er sie ja. Aber wenn dem so war – was konnte so schrecklich sein, dass sie dieses Martyrium der Konsequenz vorzog, die sie erwartete, wenn sie sich verweigerte?
    »Der Puls ...«, erklang eine leise Frauenstimme aus dem Lautsprecher.
    »Keine weiteren Schmerzmittel!«, befahl Ellen herrisch, ohne ihre Aufmerksamkeit auch nur den Bruchteil einer Sekunde von ihrem grausamen Schaffen am eigenen Leib abzuwenden. »Ich werde das ...« Sie brach ab. Anscheinend bemerkte sie, wie knapp bemessen ihre Kräfte waren, und entschied, sie nicht mit Diskussionen zu vergeuden.
    Stattdessen gab sie einer der Schwestern einen schwachen Wink mit der freien Hand. »Tupfer«, befahl sie mit schwacher Stimme.
    Statt mit dem Wattebausch wischte die nächststehende Hilfskraft ihr mit der flachen Hand über die Stirn. Tatsächlich hätte ein Wattebausch längst nicht mehr ausgereicht, den Schweiß zu entfernen, der mittlerweile in einem kleinen Rinnsal von der Nasenspitze der jungen Ärztin tropfte und sich mit dem Blut auf ihren Händen vermischte.
    »Der Puls rast davon«, wiederholte eine andere, dieses Mal männliche Stimme.
    Die Muskeln in Ellens Wangen zuckten nervös. Langsam zog sie das Instrument aus der Wunde. Ich wollte wegsehen. Ich musste mir selbst nicht zumuten, im Detail zu betrachten, was Ellen aus ihrem Körper hervorzog, schließlich zwang mich niemand dazu. Aber der Schreck lähmte mich. Ich konnte nicht einmal blinzeln, geschweige denn den Kopf drehen, um meinen Blick von dem Bildschirm loszureißen.
    »Ich habe es gleich«, flüsterte die Ärztin nervös und schwach. Ich sah, wie ihre Hände zu zittern begannen.
    »Bitte ...«
    Plötzlich ließ sie das Folterinstrument fallen und beugte sich so weit vornüber, dass sie vom OP-Tisch zu stürzen drohte. Zwei der Schwestern packten sie geistesgegenwärtig unter den Achseln und hoben sie in eine aufrechte Haltung zurück.
    »Sie kollabiert!«, hörte ich eine Frauenstimme rufen.
    »Wir müssen ...«
    Dann verlosch das Bild auf dem Monitor.
    Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, starrte ich entsetzt zu dem Bildschirm hinüber, wartete mit rasendem Herzen und voller Angst und Sorge darauf, dass das Bild, von dem ich mir gerade noch gewünscht hatte, es nicht mehr betrachten zu müssen, wieder aufflammte, doch nichts geschah. Nach wenigen Augenblicken waren auch die letzten grauen und weißen Pünktchen, die das Bild des Operationssaals abgelöst hatten, verschwunden. Was blieb, war die grausame Ungewissheit darüber, was in den nächsten Sekunden geschehen war und was man Ellen vielleicht in diesem Moment antat.
    Wo zur Hölle waren wir hier gelandet? Wohin hatte man uns verschleppt? Aber was auch immer das hier darstellen sollte: Es war mit unerschütterlicher Sicherheit nicht das, was es zunächst zu

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