Nemesis 06 - Morgengrauen
gekommen. Aber es war nicht dunkel im Raum, wie ich feststellte, als ich die Lider mit großer Mühe ein winziges Stück weit anhob.
Fast alle Monitore, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren, waren in Betrieb.
Mein Blick fiel auf den am nächsten in meinem Sichtfeld liegenden Flachbildschirm, auf dem sich nun offenbar nicht das Bild einer Überwachungskamera zeigte, sondern ein Video abgespielt wurde, das seiner Qualität nach wesentlich älter sein musste als das Gerät, mit dem es abgespielt wurde. Die Farben wirkten trüb, die Konturen verwischt. Dennoch erkannte ich, dass es sich um die Innenaufnahme eines fahrenden Wagens handelte. Kinder saßen dicht zusammengepfercht auf den beiden Rückbänken eines Jeeps oder kleinen Busses: blonde Jungen und Mädchen in Pfadfinderuniformen, die Armbinden trugen und sichtlich aufgeregt darauf warteten, endlich ihr Ziel zu erreichen. Ich kannte diese Kinder.
Es waren Ellen, Judith, Maria, Stefan und Ed.
Mein Herz tat einen erschrockenen Satz, doch die Erregung, die mich plötzlich ergriff, lag weniger in der Tatsache begründet, dass diese Kinder bis ins letzte Detail jenen glichen, die ich in meinen Träumen gesehen hatte. Es war schlichtweg unmöglich, dass die Vorstellungen, die ich in meinen Träumen von bestimmten erwachsenen Menschen in kindlichen Körpern gehabt hatte, sich mit der Realität makellos deckten, die irgendwann von einem Amateurfilmer eingefangen worden war, zumal ich die entsprechenden Personen doch vor wenigen Stunden erst kennen gelernt und bislang noch nicht einmal ein Foto, geschweige denn ein Video von ihnen zu Gesicht bekommen hatte.
Mein Entsetzen entzündete sich vor allem am Antlitz eines zierlichen blonden Knaben, der zwischen Judith und Stefan auf der hinteren Bank des Wagens kauerte und im Gegensatz zu den anderen keineswegs von freudiger Ungeduld gepackt war, sondern mit ausdruckslosem Gesicht an dem Kind Stefan vorbei aus dem Fenster des Jeeps starrte.
Dieser Junge war ich!
Es war unmöglich, und trotzdem erkannte ich mich zweifellos wieder. Aber wie konnte das sein? Ich hatte die fünf anderen nie zuvor gesehen, geschweige denn mit ihnen in einem Fahrzeug gesessen, auch nicht in meiner Kindheit! Und ich hatte in meinem ganzen Leben nie eine verdammte Pfadfinderuniform getragen!
Das Bild auf dem Monitor verwischte, und es erschienen in rascher Folge knappe Ausschnitte von der Burg, von den Lehr- und Schlafräumen, vom Hof, vom Burgweg, von einheitlich gekleideten Schülern, die im Gänsemarsch über das Kopfsteinpflaster marschierten ...
Erneut glaubte ich mich zwischen den blonden Jungen und Mädchen zu erkennen. Aber das war ein Ding der Unmöglichkeit, zum Teufel noch mal! Nie hatte ich dieses Internat besucht, und nie hatte ich zu diesen albernen kleinen Pfadfindern gehört!
Auf einmal war meine Müdigkeit wie weggeblasen. Ich versuchte mich zu erinnern, aber da war nichts. Ich hatte viele Schulen und viele Menschen kennen gelernt in meiner Kindheit und Jugend – viel zu viele. Burg Crailsfelden aber war eindeutig nicht darunter. Diese Videos mussten Teil des hirnverbrannten Spielchens sein, das Sänger mit mir trieb. Mit der Technik der heutigen Zeit stellte es überhaupt kein Problem dar, einen Fremden in alte Filmaufnahmen hineinzukopieren; Forrest Gump war wohl das berühmteste Beispiel dafür.
Mein Blick suchte einen der anderen Monitore, und wieder erkannte ich die Kinder Maria, Ed, Stefan, Judith und Ellen. Ich selbst war diesmal nicht dabei. Die Pfadfindertruppe befand sich in einem schattigen, dicht belaubten Wald und pirschte in lockerer Linie durch das dichte Buschwerk. Ich sah, wie Judith die Hand hob und Ed zu sich heranwinkte. Ellen und Maria standen bereits bei ihr.
Die Mädchen hielten einander bei den Händen und wirkten so ernst, dass es aus der Perspektive eines Erwachsenen wie mir fast schon lächerlich schien; Kinder, die um jeden Preis versuchten, nicht wie Kinder zu wirken.
TKKG vor einem besonders schwierigen Fall – nur dass diese Truppe jeglicher Spur der Niedlichkeit entbehrte.
Was auch immer diese Kinder planten, hatte mit einem altersgerechten, munteren Ringelreihen nichts zu tun. Und es wirkte auf seltsame, schwer in Worte zu fassende Weise ... bedrohlich auf mich.
Nun schloss sich auch Stefan der Gruppe an, und die drei Mädchen nahmen die beiden Knaben in ihren Kreis auf.
Alle fünf hatten einen angespannten, konzentrierten Gesichtsausdruck. Judiths Lippen bewegten sich
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