Neobooks - Das Leben in meinem Sinn
lenken.
Der September vergeht so hektisch, dass Sarah und ich kaum noch zum Atmen kommen. Es gibt Tage, an denen sie ihre Tochter überhaupt nicht zu Gesicht bekommt. Dann spüre ich ihren Kummer.
In der dritten Woche, nach einem weiteren Interview bei einem der großen Radiosender, plumpst Sarah neben mir auf die Rückbank der Limousine, mit der wir von Termin zu Termin chauffiert werden.
»Puh, ich kann nicht mehr«, schnauft sie.
Ich beuge mich vor, nehme eine Flasche Wasser aus der Minibar und fülle damit zwei der durchsichtigen Plastikbecher. »Trink, das hilft.«
Wortlos kommt sie meiner Aufforderung nach. Ich trinke mit ihr, nehme ihren leeren Becher wieder entgegen und stecke ihn in meinen. Sarah setzt beide Hände über ihren Augen an, um sie zu reiben. In letzter Sekunde schaffe ich es, ihre Gelenke zu umfassen und sie mit einem Kopfschütteln an ihre geschminkten Augen zu erinnern. »Nur noch ein Interview. Danach darfst du reiben, so viel du magst, okay?«
Unter anderen Umständen würde sie nun sicher lachen, doch heute seufzt Sarah nur und lässt die Arme fallen.
»Josie hat Fieber«, erklärt sie und gähnt hinter vorgehaltener Hand. »Es ist nichts Schlimmes, aber letzte Nacht war an Schlaf nicht zu denken.«
Nun, ich weiß nur allzu gut, wie man sich nach einer unfreiwillig durchwachten Nacht fühlt. »Was ist mit Alberta? Könnte sie nicht …«
Sarah schüttelt entschlossen den Kopf, bevor ich meinen Satz überhaupt beenden kann. »Nein! Berta ist Josies Nanny, ich bin ihre Mutter. Wenn ich da bin, hält sich Alberta eher im Hintergrund. Natürlich hat sie mir angeboten aufzustehen, aber … ich meine, andere müssen das doch auch irgendwie schaffen. Es gibt so viele alleinerziehende Mütter, die trotzdem arbeiten gehen. Die haben nachts auch niemanden für ihre Kinder, oder?«
Ihre Worte lassen eine sonderbare Wut in mir aufsteigen, die ich mir zunächst nicht erklären kann. Ich weiß nur, gegen wen sie sich richtet. Ja, in diesem Moment hasse ich Daniel ein wenig, und kurz darauf erkenne ich auch endlich, warum: Es ist sicher kein Zufall, dass sich Sarah mit einer alleinerziehenden Mutter vergleicht, auch wenn ihr das wahrscheinlich nicht einmal bewusst geworden ist. Seit Josies Geburtstag ist Daniel nicht mehr zu Hause gewesen. Alles bleibt allein an Sarah hängen, die in diesem Moment erneut gähnt. So erschöpft habe ich sie noch nicht erlebt.
»Gott, all diese Termine und Interviews schlauchen mich mehr als der eigentliche Dreh«, murmelt sie, schlüpft mal wieder aus ihren hochhackigen Schuhen und zieht die Beine an. Die Geste wirkt schon so vertraut. Ich strecke meinen Arm nach ihr aus und ziehe sie an mich heran.
»Komm schon her und leg dich hin. Die Fahrt dauert bestimmt eine Dreiviertelstunde, bei dem Verkehr vermutlich noch länger. In der Zeit kannst du die Augen schließen und dich ausruhen.«
Sarah zögert keine Sekunde. Sie bettet ihren Kopf auf meinem Schoß und winkelt die Beine an. Ich greife an den Haken über meiner Tür, hänge meine Jeansjacke ab und breite sie über Sarah aus. Denn dank der Klimaanlage, die bei der herrschenden Hitze auf Hochtouren läuft, ist es im Inneren des Wagens recht kühl. Sarah umfasst meinen Oberschenkel mit einem Arm und drückt ihn an sich, als wäre mein Bein ihr Kissen. Der Schlaf kommt so schnell über sie, dass sie vermutlich nicht einmal spürt, wie er sie mit sich reißt. Bald schon wird ihre Atmung tiefer und ihr Kopf ein wenig schwerer. Ich kann meine Augen nicht von ihr nehmen.
Still beobachte ich das ruhige Heben und Senken ihrer Brust und das Zucken ihrer Mundwinkel. Wünsche mir ein Lächeln, bekomme jedoch nur eine vage Andeutung.
Der Genuss, sie so zu beobachten, bleibt nicht lange ungetrübt. Es gibt so viel, was hier komplett falsch läuft. Sarah ist verlobt … und Mutter. Nicht nur einmal habe ich mich gefragt, ob ich mich wirklich in sie verliebt habe oder nur in die Illusion, die sie mir momentan bietet. Die junge Mutter eines vierjährigen Mädchens. Genauso alt wäre mein Kind nun auch. Und Shirley wäre nur ein Jahr jünger als Sarah. Schlechtes Gewissen packt mich bei dem Gedanken an meine erste große Liebe. In diesem Augenblick kommt es mir so vor, als würde ich sie ersetzen. Auch wenn ich Sarah nur heimlich liebe, ist sie dennoch die Frau, deren Kopf momentan auf meinem Schoß liegt.
Als ich meine Hand von ihrem Arm löse, um eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht zu streichen, seufzt sie leise und
Weitere Kostenlose Bücher