Nephilim
Blut in aufgewühlter Erde. Er sah ein Grab, fast meinte er, den Schnee zu riechen, der leise darauf niederfiel, und er sah einen jungen Engel, in Menschenjahren vielleicht sechs oder sieben, der vor dem Grab auf die Knie fiel und weinte. Es schien ihm, als würde er den Schmerz des Jungen selbst spüren, er wusste, dass es seine Mutter war, die in der kalten Erde lag, und als er die Faust sah, die sich drohend über dem Kind erhob, fuhr er zusammen. Der Schlag traf den Engel mit voller Wucht. Nando sah die schweren Stiefel, die vor ihm in den Schnee traten, und er bemerkte den Schatten der Schwingen, der auf das Gesicht des Kindes fiel. Eine Stimme drang durch den Wind über dem Grab, eine raue, harte Stimme, die Nando ins Gesicht schlug. Willst du sein wie die Menschen? , fragte die Stimme, und der junge Engel begann zu zittern. Wimmernde, verweichlichte Kreaturen sind es, doch du bist ein Engel, Avartos! Ein Krieger – und kein Mensch, der schwanken und zittern darf, da seine Existenz flüchtiger ist als ein Nebelstreif am Horizont. Du bist ein Engel, und jede Träne bringt dich den Schatten näher, die in dir lauern! Stürzt du in sie, wirst du werden wie jene, die wir jagen und verachten! Du wirst ein Diener des Teufels sein, mein Sohn – ein Sklave der Hölle, einer von jenen, die deine Mutter töteten!
Da schrie der Engel auf, das Bild zerbrach. Das Gold stürzte in Avartos hinein, und zurück blieb ein milchiges, blindes Weiß, während sein Mund zu einem stummen Schrei geöffnet war, der doch in Nando widerklang wie ein mächtiger Chor aus Trauer und Verzweiflung. Doch mehr noch als dies fühlte Nando die Furcht, die in dem Engel aufwallte wie eine alles verschlingende Welle aus Finsternis.
Er zog die Hand zurück, er wusste selbst nicht, warum er das tat, aber dennoch überkam ihn nun, da er Avartos sterben sah, wieder die Wärme, die er beim Anblick seiner Mutter empfunden hatte. Lautlos streckte er die Hand aus und legte sie auf die Brust des Engels. Er tastete nach dessen Herzschlag, flüsternd kam der Heilungszauber über seine Lippen, und er sah, wie goldene Funken in dessen Augen zurückkehrten.
Ein heftiger Schlag traf ihn an der Schulter, instinktiv fuhr er herum und sah, dass es ein Splitter der Schutzwälle war, die sich noch immer hoch über der Stadt wölbten. Die Engel schlugen donnernde Zauber von der anderen Seite dagegen, tiefe Risse zogen sich über die Wälle hin, und überall in der Stadt erzitterten die Gebäude zum Zeichen dafür, dass sie auseinanderbrachen.
»Nando«, flüsterte Noemi, die ihn in diesem Moment erreichte. Ihre Zauber hatten sie vom Gift befreit, sie griff nach Nandos Arm, um ihn mit sich zu ziehen. Ein undurchsichtiger Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, als sie Avartos sah, der in seiner Ohnmacht stöhnte, doch gleich darauf wandte sie sich ab.
»Wir müssen den Mal’vranon schützen«, sagte sie entschlossen. »Wenn er fällt, ist Bantoryn verloren!«
Eilig erhoben sie sich in die Luft und jagten auf den Turm der Zwischenweltler zu, der noch immer in hellem Licht erstrahlte, doch noch ehe sie ihn erreicht hatten, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Erschrocken fuhren sie zurück. Der Mal’vranon schwankte, kurz erloschen die Flammen über ihm – und im nächsten Augenblick stürzte ein großer Teil von ihm tosend zusammen. Noemi schrie, außer sich stürzte sie auf die Überreste zu, die in dichten Rauch gehüllt wurden. Nando eilte ihr nach, den Blick fest auf den zerfetzten Turm gerichtet, der sich nun wie ein Dorn in den Himmel der Höhle erhob. Kaya schoss ihm durch den Kopf, für einen Augenblick sah er ihr erschrockenes Gesicht. Der Teil des Mal’vranons, in dem sein Zimmer lag, stand noch immer, doch die Schwarze Brücke stöhnte laut, als fürchtete sie, den Gesteinsbrocken zu folgen, die sie umtosten, und gleich darauf ging eine heftige Erschütterung durch die Höhle, die einen Turm ganz in der Nähe zum Einsturz brachte. Im letzten Moment wich Nando den fallenden Steinen aus, er verlor Noemi aus den Augen, setzte zur Landung an und stolperte über das Dach eines Hauses. Asche, Rauch und Flammen stoben durch die Luft. Atemlos sah er hinauf zu den Sternen aus Feuer und Eis. Die Wälle über der Stadt waren verschwunden. Der Einsturz des größten Teils des Mal’vranons hatte sie mit sich gerissen, und nun stürzten die Engel auf Bantoryn nieder – die Heere des Lichts in Kaskaden aus gleißender Finsternis.
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Avartos erwachte von der
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