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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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ein erbärmliches Insekt. »Nein«, flüsterte der Engel dann. So schnell, dass Nando nicht zurückweichen konnte, schnellte dessen Hand vor und legte sich in seinen Nacken. Sofort spürte er die Kälte auf unerträgliche Weise zunehmen, seine Muskeln wurden zum Zerreißen gespannt, er bekam kaum noch Luft.
    »Ich lasse mich nicht zum Narren halten«, zischte Avartos. Nando spürte den Atem des Engels auf seinem Gesicht, es war, als würde eisiges Wasser über seine Wangen strömen. »Warum ist er noch nicht frei? Warum hält er dich zurück?«
    Nando bemühte sich vergeblich, ein Zittern seiner Lippen zu unterdrücken, doch seine Stimme klang fest, als er antwortete: »Er hält mich nicht zurück. Er ist nicht Herr meiner Gedanken. Ich widerstehe ihm!«
    Avartos’ Augen verengten sich, sein Griff wurde fester. »Kein Nephilim widersteht dem Teufel über eine so lange Zeit. Du bist nichts als ein halber Mensch, schwach und verführbar, und du hörst seine Stimme in deinem Kopf.« Prüfend sah er Nando an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich muss es wissen«, flüsterte er und legte zwei Finger der linken Hand an dessen Schläfe. »Ich muss wissen, was er plant!«
    Ein heftiger Schmerz zuckte durch Nandos Kopf, dicht gefolgt von einem grellweißen Blitz. Er wusste, dass Avartos in seine Gedanken eindrang, dass der Engel seine Erinnerungen durchforstete und er ihn nur mit einem mächtigen magischen Schlag aus seinem Kopf vertreiben konnte. Jeder Versuch, seine Magie zu sammeln, wurde von dem Gift in seinem Körper vereitelt, doch es gelang ihm, die Helligkeit zu durchbrechen und Avartos’ Gesicht dicht vor sich zu erkennen. Die Augen des Engels flammten in kristallenem Gold, konzentriert raste sein Geist durch Nandos Erinnerungen. Doch Nando ballte die Faust. Lautlos kam der Zauber über seine Lippen, und gleich darauf nutzte er die Brücke, die Avartos zwischen ihnen errichtet hatte, und glitt seinerseits hinüber in die Gedanken des Engels.
    Er befand sich in einem vollkommen dunklen Raum, Bilder wirbelten um ihn herum, er sah Reihen aus Schwertern, die untergehende Sonne über den Dächern von Rom und Budapest, dann Schnee auf frisch geschlossenen Gräbern – und die Gestalt einer Frau, die mit dem Rücken zu ihm am geöffneten Fenster einer Burg stand. Sie trug ein helles, mit zarter Spitze versehenes Kleid, ihr blondes Haar fiel wie flüssiges Gold bis auf ihre Hüfte hinab. Langsam wandte sie den Kopf, und als hätte diese Bewegung Avartos aus der Konzentration gerissen, fuhr er zusammen. Das Bild flackerte vor Nandos Augen, ein stechender Schmerz schoss in seinen Nacken, aber er wandte den Blick nicht ab. Er musste das Gesicht dieser Frau sehen, er würde sich nicht abwenden, ehe er einmal in ihre Augen geschaut hatte.
    Sie drehte sich zu ihm um, ihr Gesicht war schmal und von vornehmer Blässe, und ihre Augen – ihre Augen waren von goldener Farbe. Er begriff, dass er einen Engel vor sich hatte, und nun sah er auch ihre Flügel, durchscheinend wie schwach flirrende Seifenblasen und so zart, dass er sie für einfallende Sonnenstrahlen gehalten hatte. Sie sah ihn an, und in dem Moment, da sich ein Lächeln auf ihre Lippen legte und sie von innen erhellte, da fühlte Nando die Wärme, die von ihr ausging, eine Hingabe und Zärtlichkeit, die ihn augenblicklich an seine Mutter denken ließ, an den Duft ihres Haares, die Wärme ihrer Haut, die sanfte Berührung ihres Atems auf seiner Stirn, und er spürte, wie die Gefühle in ihm so übermächtig wurden, dass sie aus ihm hinaustraten und das Zimmer mit goldenem Licht erfüllten. Die Frau streckte die Hand aus, doch da zerbrach das Bild wie ein berstender Spiegel. Ein Schlag traf Nando an der Brust, er prallte rücklings gegen die Hauswand und konnte sich nur im letzten Moment vor einem Sturz bewahren.
    Wenige Schritte von ihm entfernt stand Avartos. Er starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen, die Brust bebend vor Zorn, und Nando erkannte dieselbe Blässe in seinen Wangen, dasselbe schmale Gesicht und dieselbe Mandelform der Augen, die er gerade im Gesicht der Frau gesehen hatte, und er begriff, dass er Avartos’ Mutter gegenübergestanden hatte – dem Bild von ihr, das Avartos tief in sich bewahrte. Noch immer spürte er die Wärme, die von ihr ausgegangen war, doch Avartos streckte die Hand aus, langsam und zitternd.
    »Du hast es gewagt, meine Gedanken zu lesen«, presste er hervor, und Nando hörte den Zorn in seiner Stimme wie loderndes Feuer. »Du hast

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