Nephilim
Stille. Durchdringend keimte sie in seiner Brust und breitete sich in seinem Körper aus wie ein Geschwür. Er spürte den Schmerz seiner sich langsam wieder zusammensetzenden Rippen und das Ziehen des verbrannten Fleisches in seiner Brust, aber er fühlte auch die metallenen Finger des Teufelssohns auf seiner Haut und den Zauber, den der Nephilim ihm mit leisen Worten in die Glieder gesandt hatte. Es hatte nur selten Augenblicke in Avartos’ Leben gegeben, in denen er fassungslos gewesen war, doch nun, da er auf dem Platz des Drachen das Bewusstsein wiedererlangte, konnte er nicht atmen, so sehr erfüllte ihn dieses Gefühl. Er war nach Bantoryn gekommen, um den Teufelssohn zu vernichten – und stattdessen rettete dieser Nephilim ihm das Leben. Noch immer sah er sein Gesicht vor sich, atemlos und halb erstaunt, und er spürte wieder die Wärme in sich, die von irgendwoher gekommen war wie der Schnee auf stillen Gräbern und die Faust eines Vaters im Gesicht seines Kindes.
Langsam wurde das Bild vor seinen Augen klar, und mit ihm kehrten die Geräusche zurück. Die Schreie von Sterbenden. Das Zischen der Schwerter in der Luft. Das dumpfe Aufschlagen getroffener Leiber. Es waren die Geräusche des Krieges, den Avartos an unzähligen Orten der Welt erlebt hatte, die Klänge, mit denen er jede Nacht und jeden Tag begann und die ihn mitunter aus dem dumpfen Dämmerzustand rissen, wenn es ihm tatsächlich gelang, sich zur Ruhe zu betten. Er hatte die Nephilim gejagt, er hatte so viele von ihnen getötet, dass er sie nicht mehr zählen konnte, und nun lag er mitten in ihrer Stadt, vernahm ihre Schreie, hörte sie sterben und wusste, dass einer aus ihren Reihen ihn gerettet hatte – und dass es der Teufelssohn gewesen war. Er erinnerte sich an seinen Flug durch dessen Gedanken, doch er hatte den Fürsten der Hölle nicht darin gefunden. Es schien fast, als habe der Nephilim die Wahrheit gesagt. Ich widerstehe ihm!
Die Heere der Engel rasten über die Dächer hinweg wie gewaltige Insektenschwärme, die Portale zerbrachen unter gezielten Angriffen, und Avartos sah die Nephilim fliehen, die Mienen vor Angst verzerrt, sah auch die Kinder, hörte ihr Weinen und ihre hilflose Panik, und er schaute in die Gesichter seines Volkes, reglos und starr wie von Masken bedeckt, während sie mit flammenden Schwertern auf die Nephilim einhieben und einen nach dem anderen niederstreckten.
Hustend kam er auf die Beine. Er wusste selbst nicht, ob ihn die Stimme des Teufelssohns in seinen Gedanken dazu trieb, die Schreie der Nephilim um ihn herum oder die Kampfesrufe der Engel. Alles, was er wusste, war, dass er die Geräusche nicht mehr ertrug, dass sie nicht mehr in die Stille in seinem Inneren fielen oder an ihm abglitten wie Regen, sondern dass sie ihn durchdrangen und in ihm aufgingen, jeder einzelne Schrei, jeder letzte Atemzug, und dass sie zu seiner Verzweiflung wurden, zu seinem Sterben, zu seinem Tod.
Er breitete die Schwingen aus, um den Schreien zu entkommen, doch sein Körper wollte ihm noch nicht wieder gehorchen. Aus einiger Höhe stürzte er zu Boden, hart schlug er mit dem Gesicht auf die Platten. Er sah den halb zerstörten Drachen unter sich, die Pranken um eine Geige gelegt, und wieder tauchte das Gesicht des Teufelssohns in ihm auf, dieser Blick, mit dem der Nephilim ihn betrachtet hatte, und er fühlte erneut die Finsternis in sich aufwallen – die Furcht, die ihn seit Jahrhunderten erfüllte wie das Blut seine Adern, ohne dass er bisher auch nur etwas davon geahnt hätte. Niemals zuvor hatte er ein Wort wie dieses auf seinen Lippen gefühlt, und als er auf die Beine kam und es als gewaltigen Schrei aus seiner Lunge entließ, da schien es ihm, als bräche sein Innerstes in sich zusammen, als würde es fortgerissen von einem Sturm, der aus ihm selbst geboren wurde und der sich in den Augen des Teufelssohns spiegelte, dem er sein Leben verdankte. Kein Zorn hatte in dessen Blick gestanden, nein, er war ein Spiegel gewesen, wie die Engel es einst für die Menschen gewesen waren, ein Spiegel, der Avartos’ Finsternis in ihn selbst zurückgeworfen und ihr den Namen gegeben hatte, den sie verdiente: Furcht. Und nach der Furcht kam etwas anderes, etwas, das Avartos fremd erschien, etwas, das ihm nur ein Begriff war wie ein seltenes Tier oder eine Pflanze, die er niemals zu Gesicht bekommen hatte. Der Teufelssohn hatte es empfunden, als er ihn angesehen hatte, er hatte es gefühlt, als Avartos im Sterben lag, und er hatte
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