Nephilim
war in die Finsternis gefallen, dieses Bild hatte sich ihm eingebrannt wie ein boshaftes Geschwür, es schmerzte ihn, den Blick darauf ruhen zu lassen. Und doch konnte er sich nicht von Bantoryn abwenden. Es schien ihm, als würde er das Gleichgewicht verlieren, sobald er dieses Bild aus den Augen verlor, und in eine tiefe und fühllose Schwärze fallen, die ihn mit sich reißen konnte wie ein tosender Fluss.
»Wie lange willst du noch hier sitzen?«, fragte eine Stimme neben ihm, und als er den Blick wandte, schaute er Kaya ins Gesicht. Die Dschinniya hockte auf der Geige und sah prüfend zu ihm auf. Die Roboter von Morpheus hatten sie ebenso wie das Instrument heil aus der Ruine des Mal’vranons geborgen, doch trotz einiger Kratzspuren an der Geige und verkohlten Haarsträhnen in ihrer Mähne hatte Kaya darauf bestanden, auf direktem Weg zu Nando gebracht zu werden, und keiner ihrer metallenen Retter hatte es gewagt, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Nach einem überschwänglichen Wiedersehen hatte Nando ihr in knappen Worten von Bhalvris erzählt und von allem, was Antonio ihm während des Gesprächs im Mohnfeld anvertraut hatte, und nun saß sie bei ihm, den Blick ruhig auf ihn gerichtet, und wartete darauf, dass er erneut anfangen würde zu sprechen.
Nando hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Es kommt mir vor, als wäre ein Teil von mir mit Bantoryn in die Finsternis gefallen«, erwiderte er leise. »Alles um mich herum ist schwarz.«
Kaya sah ihn an, ihre Augen schimmerten leicht in der Dunkelheit.
»Du hast Bhrorok besiegt«, entgegnete sie sanft. »Du hast dein Ziel erreicht, du bist frei. Nun kannst du zurückkehren in die Welt der Menschen, wie du es einst wolltest, oder in den Schatten bei den Nephilim bleiben.«
»Ich kann nicht zurückgehen in die Menschenwelt«, erwiderte Nando. »Ich kann nicht alles zurücklassen, was ich in der Welt der Schatten erfahren habe. Und kann ich wirklich bei den Nephilim bleiben, ich, der Sohn des Teufels, der die Kraft in sich trägt, sie alle zu befreien?«
Kaya schwieg für einen Moment. »Du weißt, welchen Weg Antonio für dich gesehen hat«, sagte sie dann.
»Ja«, erwiderte Nando kaum hörbar. »Jener Weg, vor dem ich davongelaufen bin. Doch wenn ich mich entschließen sollte, ihn zu gehen … Wer werde ich werden auf diesem Weg zwischen Licht und Finsternis? Schon mein Kampf gegen Bhrorok hat mich bis an meine Grenzen getrieben und darüber hinaus. In welche Abgründe werde ich fallen in dem Kampf, den ich gegen seinen Herrn bestehen müsste? Und würde es mir gelingen, in der Finsternis zu fliegen?«
Kaya nickte langsam. »Es ist, als würde man auf einem Drahtseil stehen«, erwiderte sie leise, und für einen Moment drang Yrphramars Stimme durch ihre Worte, so deutlich und klar, dass Nando überrascht den Kopf hob. Wie oft hatte sein alter Freund dies zu ihm gesagt, wie oft hatte er dabei gelächelt, traurig und glücklich zugleich, und wie oft hatte Nando die Bilder vor sich gesehen, die nun in ihm auftauchten: Yrphramar allein zwischen erleuchteten Häusern in der Nacht, Yrphramar im Regen, Yrphramar auf einer Straße ohne Ziel, den Blick halb zurückgewandt. »Das Seil reicht über eine Schlucht, aber man sieht es nicht, denn es ist vollkommen finster. Man fühlt nur, wie das Seil schwankt, wie es vibriert unter den eigenen Schritten. Es ist schlimm, wenn man sich vorwärtstastet, immer in der Furcht, jeden Augenblick fallen zu können – doch am allerschlimmsten ist es, wenn man stehen bleibt. Dann wird die Dunkelheit größer, dann greift sie nach den Haaren, nach der Kleidung, man meint sogar, sie würde durch die Haut dringen und die Knochen zum Zittern bringen.«
Nando lächelte, als er daran dachte, wie Yrphramar bei diesen Worten stets nach seinem Ärmel gegriffen und daran gezupft hatte, doch gleichzeitig spürte er die Dunkelheit um sich herum und fühlte das Seil unter seinen Füßen wie damals, als er diese Worte zum ersten Mal vernommen hatte.
»Da steht man nun«, fuhr Kaya fort, doch Nando sah sie nicht mehr. Er saß bei Yrphramar in der Schwarzen Gasse, hörte den Regen auf das Dach des Unterschlupfs prasseln und stand gleichzeitig auf dem bebenden Seil. »Man versucht, in der Dunkelheit ringsherum etwas zu erkennen, lauscht auf jedes Geräusch, auf das Knarzen des Seils, man spürt jede Bewegung, jedes Zittern in den Streben, jeden noch so leichten Windzug. Man vergisst die Zeit, man weiß nicht mehr, wie man auf das
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