Neptuns Tochter (Gesamtausgabe)
Mika.
Sonst hatte sich ihr Gesichtsausdruck immer verändert, wenn sie Mika anschaute. Nicht jetzt. Er änderte sich nicht. Auch nicht, als ihre Blicke sich trafen. Mika hoffte so sehr, dass dieser warme Schimmer in Timeas Augen tatsächlich für sie bestimmt war. Nicht für Adrienn und deren Gefühle.
Die Großmutter sprach einfach weiter. Timea Illay und Mika räusperten sich beinahe gleichzeitig. Und beinahe gleichzeitig lösten sie sich aus diesem seltsamen Augenblick.
Mika tippte weiter, versuchte alles genau so festzuhalten, wie Adrienn es erzählte. Es gelang ihr nicht. Ständig musste sie Adrienn bitten zu warten, weil ihre Erinnerungen flüssig und klar in ihr hochkamen wie nie zuvor. Wahrscheinlich sah sich Timea Illay in ihrer Meinung bestätigt. Mika war nicht geeignet für diesen Job.
Aber Timea sagte nichts. Kein Ton drang aus ihrer Richtung. Nicht einmal das Geräusch des Hebens einer Tasse oder Trinkens von heißem Tee. Nichts war zu hören außer Adrienns Stimme und den zittrigen Bewegungen von Mikas Fingern auf der Tastatur. Finger, die so gern die Wärme der Haut von Timea Illay gespürt hätten.
Plötzlich gab es nichts mehr zu tippen. Adrienn hatte aufgehört zu sprechen. Ihre Liebesgeschichte war beendet. Aus ihr und Janosch war kein Paar geworden, weil … Ja, warum?
»Weshalb sind Sie Janosch nicht einfach gefolgt?«, fragte Mika leise.
Adrienn zeigte wieder dieses sanfte Lächeln. »Weil es nicht möglich war«, erklärte sie. »Janosch und ich kamen aus völlig unterschiedlichen Kreisen. Eine Verbindung war undenkbar.« Sie schaute in die Richtung, in der sie ihre Enkelin vermutete. »Heutzutage ist es wesentlich leichter, so zu leben, wie man es für richtig hält. Wenn man den Mut hat, zu seinen Gefühlen zu stehen«, fügte sie mit einem merkwürdigen Unterton hinzu.
Manchmal führten die Damen Illay recht seltsame Gespräche. Sie sprachen zwar deutsch oder ungarisch, und trotzdem verstand Mika sie nicht.
Aber Timea schien verstanden zu haben. Sie wirkte ertappt, vielleicht sogar schuldbewusst. Wirklich einordnen konnte Mika den Blick jedoch nicht, den Timea ihrer Großmutter schenkte, und unvermutet auch ihr.
Erschrocken drückte Mika auf Speichern. Die letzten Stunden waren abgespeichert. Auf dem Laptop und in ihrem Kopf.
»Ich muss noch etwas erledigen.« Timea Illay stand plötzlich auf und bewegte sich Richtung Tür. Ihr Körper war wieder von einem unsichtbaren, aber spürbar eisigen Ring umgeben.
»Warte einen Moment«, bat die Großmutter. »Ich habe noch eine Bitte an dich beziehungsweise an Sie, Mika.«
Wie zwei Synchronschwimmerinnen drehten Timea und Mika sich zu Adrienn.
»Ich fahre doch am Montag für drei Wochen zur Kur.« Sie schien das leichte Zusammenzucken ihrer Enkelin bemerkt zu haben. »Du hast das doch nicht vergessen, Timea?«
»Tut mir leid, Großmutter«, erwiderte Timea zerknirscht. »Ich hatte die Tage viel um die Ohren. Da ging das irgendwie unter.«
»Das ist nicht tragisch, Schatz.« Adrienn hatte wieder diesen zufriedenen Gesichtsausdruck. »Petra wird mich wie immer begleiten«, beruhigte sie ihre Enkeltochter. »Ich würde dich nur bitten, in der Zeit hier im Haus zu sein, damit Mika nicht alleinbleiben muss.«
Ruckartig schloss Mika den Deckel des Laptops. »Ich kann doch … wieso soll ich …« Und wieder einmal stotterte sie hilflos herum, als sie in das versteinerte Gesicht von Timea Illay sah. Die Verbundenheit in den letzten Minuten war wohl Adrienns Geschichte geschuldet. Es wäre Mika aber lieber gewesen, wenn sie sie nicht gespürt hätte. Denn nun wog Timeas Ablehnung umso schwerer.
Mika rechnete still zusammen, ob sie sich eine Kündigung schon leisten könnte.
~*~*~*~
A m Montag wurde Mika von Timea Illay in Empfang genommen. »Wenn Sie etwas brauchen, ich bin in meinem Arbeitszimmer«, verkündete sie und ließ Mika einfach im Flur stehen.
»Wie schön, wenn einem morgens gleich die Sonne ins Gesicht lacht«, murmelte Mika vor sich hin. Das ganze Wochenende hatte sie nach Möglichkeiten gesucht, um Timea aus dem Weg gehen zu können – hatte hin und her überlegt. Das Ergebnis war immer dasselbe gewesen.
Also hatte sich Mika heute Morgen vor den Spiegel gestellt, die Schultern gestrafft, ihr teilnahmslosestes Gesicht aufgesetzt, den Schmerz in den hintersten Winkel ihres Herzens verbannt und sich entgegengeschleudert: »Ich kündige.«
Auch wenn ihr Spiegelbild sie davon überzeugen wollte zu bleiben. Gebettelt
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