Neptuns Tochter (Gesamtausgabe)
Nacht zurückgekommen wäre?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hätte ich mir noch Popcorn und eine Cola geholt und die Nachtschwärmer beobachtet.« Mika schaute unauffällig von rechts nach links und wieder in Timeas Gesicht. »Du hast keine Ahnung, was da schon am Tage für Gestalten herumspringen. Was die alle für interessante Geschichten haben.«
»Die sie dir selbstverständlich auch alle erzählt haben«, bemerkte Timea.
Mika beugte sich zu Timea. »Das sieht man den Leuten doch an. Du musst nur genau hinsehen, dann brauchst du auch keine Erzählungen. Das Geheimnis dabei ist Phantasie.«
Nahe , schrie es in Timea, das ist viel zu nahe . Ihr Verstand riet ihr, schnell wegzurücken. Ihr Körper tat genau das Gegenteil. »Warum eigentlich diese seltsame Karte?«, fragte sie, um eine neutrale Stimme bemüht. Was ihr aber nur leidlich gelingen wollte.
»Die steckte tatsächlich hinter dem Scheibenwischer«, erklärte Mika. »Ich bin nicht neuerdings im Kfz-Handel tätig.«
Diese Lebenslust, die Mika ausstrahlte, war es, die Timea seit Tagen gesucht hatte. Mit einem Mal klarte sich alles um und in ihr auf. Kein Nebel, keine Zweifel. Das hier war die echte Mika. Timea betrachtete Mikas Gesicht. Ununterbrochen. Sah, wie es immer verwirrter wurde, fragender, wissender, zärtlicher. »Darf ich dich um etwas bitten, Mika?«, fragte Timea leise.
»Um fast alles«, flüsterte Mika.
»Ich will heute keine Erklärungen. Will nicht über die Vergangenheit reden – oder die Zukunft.«
»Versprochen.«
Timea nickte.
»Timea?«
»Hm?«
»Wenn … was willst du dann?«
Noch immer hatte Timea ihren Blick auf Mika gerichtet. »Dich.«
Mikas Augen antworteten: »Ja«. Wortlos stieg sie aus dem Wagen. Wartete, bis Timea ebenfalls ausgestiegen war.
Ohne sich zu berühren, oder ein Wort zu sprechen, gingen sie auf das Haus zu, betraten es und gingen weiter, in Richtung Timeas Schlafzimmer.
»Du weißt, dass …«, begann Timea.
Mika legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Keine Erklärungen«, erinnerte sie leise.
Und genauso verging diese Nacht. Schweigsam. Mika gab Timea alles, was sie brauchte, um diesen Tag zu vergessen – Ekstase bis zur Erschöpfung.
Als Timea erwachte, lag sie allein in ihrem Bett. Sie fühlte sich wie befreit, obwohl ihr Körper von der Leidenschaft der Nacht schmerzte. Als sie sich streckte, ertastete ihre Hand die Speisekarte des Chinesen um die Ecke.
Beim nächsten Mal bringe ›ich‹ etwas Süßes zum Schlecken mit , stand unter ›Warmer Pflaumenwein‹, mit einem zwinkernden Gesicht dahinter.
Timea schüttelte den Kopf. »Sie ist wirklich unersättlich«, stellte sie leise fest. Augenblicklich merkte sie, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Die Einzige, die vergangene Nacht unersättlich gewesen war, war Timea selbst. Mika hatte nichts dafür bekommen. Timea versuchte sich zu erinnern. War Mika denn überhaupt nackt gewesen? Die Hitze in Timeas Gesicht nahm zu. Nein , erinnerte sie sich beschämt.
~*~*~*~
G enervt stöhnte Timea auf, weil sie bereits das vierte Solitärspiel hintereinander verloren hatte.
Erst halb sieben. Im Haus schlief noch alles, sogar die Wanduhr hatte das Ticken eingestellt.
Im Geiste notierte sich Timea, dass sie die Batterien wechseln müsste, oder zumindest Petra darum bitten. Denn sie selbst hatte heute bestimmt anderes zu tun.
Sie schaute in ihren Terminkalender. Ein neuer Kunde erwartete ihren Besuch, drei Wohnungsbesichtigungen – diesmal mit ihr als Maklerin, ein Termin mit Herrn Neubert, um den Kreditvertrag auf die neuen Gegebenheiten anzupassen, und, und, und. Ein Arbeitstag also, wie sie ihn üblicherweise hatte. Abgesehen von dem Banktermin.
Eigentlich müsste jetzt das erwartungsvolle Kribbeln eintreten, das immer vorhanden war, wenn es um bevorstehende Geschäftsabschlüsse ging. Stattdessen hatte sie ein leichtes Magengrummeln – wegen letzter Nacht.
Bei Licht besehen … hatte sie eine Dummheit begangen. Eine Riesendummheit. Nicht nur, dass sie womöglich Mika falsche Hoffnungen gemacht hatte. Nein. Timea musste noch einen obendrauf setzen. Sie musste mit der Verlobten eines gewissen Frank Schöffen schlafen. Timea hatte etwas gemacht, was sie immer aufs Schärfste verurteilt hatte: jemanden betrogen.
Ohne die Worte auszusprechen, nannte sich Timea eine triebgesteuerte Idiotin, schnaufte laut und ging in die Küche. Wenn sie aus dem heutigen Tag unbeschadet herauskommen wollte, sollte sie sich langsam sammeln. Ein
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