Nerd Attack
sinnlos wie die auf einem belauschten Kneipengespräch basierende Schlussfolgerung, Deutschland sei ein Land voller Dummköpfe.
Kein Zweifel: Das Internet existiert, und es wird auch nicht wieder verschwinden. »Das Internet« aber, wie es Soboczynski, Jessen und all die anderen Autoren immer wieder kritisieren und attackieren, existiert nicht. »Das Internet« als ein mehr oder minder homogenes Gebilde nämlich, in dem bestimmte Regeln gelten (oder nicht gelten), in dem bestimmte Verhaltensweisen angeblich ständig zu beobachten sind, in dem sich angeblich eine bestimmte Spezies Mensch tummelt, der (fast) nichts heilig ist. Das Internet ist das vermutlich komplexeste Gebilde in der Geschichte der Menschheit, eine Kraft der Veränderung, die es mit dem Buchdruck mindestens aufnehmen kann. Und es gehört für viele Millionen Menschen in diesem Land völlig selbstverständlich zu ihrem Alltag. Im deutschen Feuilleton aber wird nach wie vor vielfach darüber gesprochen, als handele es sich um eine lächerliche Trendsportart, die von ein paar verblendeten Schwachköpfen betrieben wird. Es ist, als klänge da ein Echo der vom Digitalen »Reduzierten« durch, die Gisela Friedrichsen 1990 anlässlich des Prozesses gegen die KGB-Hacker an deutschen Computerstammtischen vermutete. Das damals etablierte Ressentiment gegen Menschen, die Computern nicht mit Skepsis oder Abscheu, sondern womöglich mit Freude und Spaß begegnen, hat sich mancherorts bis heute gehalten.
Auch in den Seniorenberuhigungsrunden, zu denen Deutschlands öffentlich-rechtliche Talkformate am späteren Abend mittlerweile geworden sind, wird über das Internet immer und grundsätzlich aus diesem Blickwinkel gesprochen: Macht es uns (sprich: die!) dumm? Verdirbt es unsere Jugend? Befördert es den Terrorismus? Ist es ein Hort für Pädophile und andere Kriminelle? Muss der Staat denn nicht endlich eingreifen? Es spricht für sich, dass der von den deutschen Mainstreammedien zum Klassensprecher der Internetgeneration gekürte Werber, Blogger und Buchautor Sascha Lobo einen knallroten Irokesenschnitt auf dem Kopf trägt: So sieht das Internet in den Augen eines substanziellen Anteils der deutschen Gesellschaft bis heute aus, unernst, rebellisch, halbseiden, noch nicht ganz erwachsen, ein bisschen aggressiv. Wenn ein deutscher Fernsehmacher das Internet ins Studio holen will, lädt er einen Irokesenschnitt ein.
Tatsächlich macht Lobo seine Sache oft gut, und er füllt eine Lücke. Die vermeintlich Verblödeten, Verrohten, Dummgesurften sind mehrheitlich noch nicht in einem Alter, in dem sie gesellschaftliche Führungspositionen besetzen könnten. Deshalb wird gern und viel über ihre Köpfe hinweg geredet. Aber sie haben heute, dem Internet sei Dank, ganz neue Werkzeuge zur Verfügung, um sich zur Wehr zu setzen.
So wie der damals 21-jährige Jurastudent Matthias Dittmayer, der öffentlich-rechtlichen TV-Magazinen Ende 2007 in einem viel beachteten und bis heute populären YouTube-Video Recherchefehler, Polemik und verzerrende Darstellungen in Beiträgen über Computerspiele und -spieler vorwarf. In der gut neunminütigen Eigenproduktion wies Dittmayer den gebührenfinanzierten Informationsprogrammen »Hart aber fair«, »Panorama«, »Frontal 21« und »Kontraste« teils haarsträubende Fehler und Unwahrheiten nach. Da wurde in einer Sendung zum Beispiel detailliert beschrieben, wie man in »Grand Theft Auto: San Andreas« willkürlich ausgewählte Opfer mit einer Kettensäge in Stücke schneiden könne, was in dem Spiel aber gar nicht möglich ist. Ein mit Fehlern gespickter Wortbeitrag des Kriminologen Christian Pfeiffer zum Fantasy-Rollenspiel »World of Warcraft« war mit Bildern aus einem Weltkriegsspiel unterlegt. In »Panorama« wurde sogar eine Szene vollständig konstruiert: Für die Kamera leerte irgendjemand ein Gewehrmagazin in eine Pixel-Leiche im Kriegsspiel »Call of Duty«, im Schneideraum kombinierte man diese Szene anschließend mit dem Lachen eines für den Beitrag gefilmten Spielers. Der jedoch hatte eigentlich über den Witz eines Mitspielers gelacht und selbstverständlich nicht auf so unsinnige Weise virtuelle Munition vergeudet. Der Beitrag ließ damit den Eindruck entstehen, als amüsiere sich der Mann darüber, dass er gerade auf eine virtuelle Leiche geschossen habe. Der NDR-Intendant musste nach wütenden Protesten eingestehen, dass man die Szene konstruiert hatte, das sei jedoch »durchaus üblich«. Der NDR-Rundfunkrat sah
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