Nerd Attack
in diesem Land mehr als 20 Millionen Menschen, die jünger sind als 35 oder 40 (um mal eine willkürliche Grenze für die Angehörigen der Generation C64 und der nachfolgenden Generationen zu ziehen), in deren Leben digitale Technologie eine zentrale, eine vor allem selbstverständliche Rolle spielt. Für die das Internet nicht »der Cyberspace« ist, sondern ein normaler Teil ihres Alltags, ebenso wie Telefone für die Generationen davor. Die Computerspiele seit ihrer Jugend kennen und deshalb nicht für gefährliche Amoktrainer halten. Die wissen, was ein Browser ist.
Die einen, die digitalen Immigranten, machen Politik für die anderen, die in einer vom Digitalen durchdrungenen Welt leben. Das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahren sogar schon eine Menge schiefgegangen: Die deutsche Politik hat das Internet nicht nur unter Helmut Kohl, sondern auch unter allen darauffolgenden Regierungen fast vollständig verschlafen. Es ist nicht so, dass man sich nicht hin und wieder mal bemüht hätte: Immer wieder wurden Internetbeauftragte bestimmt, Arbeitsgruppen, Beiräte und Kommissionen eingesetzt. Nur interessierte sich am Ende nie jemand von denen, die wirklich etwas zu sagen hatten, für deren Vorschläge. Internetbeauftragter zu sein hat in deutschen Parteien bislang niemanden wirklich weitergebracht. Es war nicht karrieredienlich, sich für dieses Thema zu interessieren. Erst als Ursula von der Leyen mit dem Kampf gegen Kinderpornografie eine massiv problematisierende Art der Annäherung fand, konnte das Internet in Deutschland sogar zum Wahlkampfthema werden. Der deutschen Politik ist das Internet bis heute in erster Linie als Gefahrenquelle präsent.
Dann aber wuchs, völlig überraschend, der Widerstand. Die Unterzeichner der Netzpetition waren nicht für Kinderpornografie im Netz. Sie hielten von der Leyens Filter nur für keine sinnvolle Lösung, weil er die Quellen der schlimmen Bilder unberührt, weil er sich leicht umgehen ließe – und sie wehrten sich dagegen, dass künftig eine Polizeibehörde als oberster Zensor über falsch und richtig im Netz entscheiden sollte. Im Kern geht es natürlich auch um ein Echo von Barlows Utopie vom freien digitalen Grenzland: Das Netz soll ein Netz für alle sein, überall. Ein spezielles Deutschlandnetz, das nach hiesigen Regeln (auch wenn die sich, wie gesagt, leicht umgehen ließen) gefiltert würde, widerspräche diesem Gedanken. An diesem Punkt ist die Argumentation der Netzsperrengegner am ehesten angreifbar. Über jeden Zweifel erhaben ist jedoch der Wunsch, auf keinen Fall eine Polizeibehörde als obersten Zensor des wichtigsten Mediums der Gegenwart zuzulassen.
Man erinnere sich an den Aufschrei, an die nationale Debatte, die die Ermöglichung der akustischen Wohnraumüberwachung, »Großer Lauschangriff« genannt, einst hervorrief. Und man stelle sich vor, eine Regierung versuchte möglichst schnell ein Gesetz durchzupeitschen, das Folgendes vorsieht: Jede gedruckte Publikation, die in Deutschland erscheint, jede Zeitung, jedes Buch und jedes Flugblatt muss künftig dem BKA zur Beurteilung vorgelegt werden. Das erstellt dann Listen mit Druckwerken, die zu übel sind, um publiziert zu werden. Geheime Listen. Das Land wäre in Aufruhr.
Der Vergleich mag polemisch klingen, er ist es aber nicht. Dem BKA die Zensorenrolle zu verweigern, war ein zutiefst demokratischer Wunsch, einer, der dem Geist des Grundgesetzes voll und ganz entspricht. All jene, die danach als »Ideologen« diffamiert wurden, denen zu Guttenberg unterstellte, dass sie sich »gegen die Sperrung von kinderpornografischen Inhalten sträuben«, waren mehrheitlich keineswegs Befürworter von Anarchie im Netz. Sie waren für Freiheit und für die in der Verfassung garantierten Bürgerrechte, für Gewaltenteilung, für »checks and balances«.
Demokratische Verfassungen werden nicht unter der Annahme gemacht, dass Menschen im Zweifel das Richtige tun werden, dass Politiker und Polizisten ja im Grunde gute Menschen sind und deshalb schon nichts schiefgehen wird. Sie sind konstruiert, um auch Fällen widerstehen zu können, in denen etwas nicht so läuft, wie man sich das als rechtschaffener Bürger wünscht. Deshalb dürfen Polizisten keine Verbrecher verurteilen, deshalb unterliegen Geheimdienste der Kontrolle des Parlaments, und deshalb entscheiden Polizeibehörden in Demokratien nicht, was publiziert werden darf und was nicht. Die Tatsache, dass genau dieser
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