Nerd Attack
zentrale Punkt jeder demokratischen Verfassung in von der Leyens Gesetzentwurf zunächst völlig übergangen wurde, sagt einiges über die Sorglosigkeit, mit der deutsche Politiker vorgehen, wenn es um Verfassungsprinzipien an einer Stelle geht, die sie und viele ihrer Wähler nicht sonderlich zu interessieren scheint: im Internet. Das war auch bei den Gesetzentwürfen zur Vorratsdatenspeicherung und der sogenannten Online-Durchsuchung so: Beide landeten vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe, in beiden Fällen erklärten die Richter die Gesetze in ihrer vorliegenden Form für nicht verfassungsgemäß.
Dass die Unterzeichner der Petition gegen das Filtergesetz es wagten, Vernunft und Bürgerrechte sogar auf die Gefahr hin, als Päderastenfreunde gebrandmarkt zu werden, zu verteidigen, ist eine Entwicklung, die es eigentlich zu feiern gälte. Hier setzten sich Menschen für sinnvolle Gesetze und demokratische Grundprinzipien ein, teils schamloser öffentlicher Diffamierung zum Trotz. Für Deutschlands politische Klasse war es ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte: Die digitalen Einheimischen hatten begonnen, sich einzumischen.
Der nächste Schritt erfolgte nur wenige Monate später: Bei der Bundestagswahl im September 2009 stimmten 2 Prozent aller Wähler, knapp 850 000 Menschen, für die Piratenpartei. Eine Partei, die sich bis kurz zuvor praktisch nur mit einem einzigen Programmpunkt hervorgetan hatte: der Forderung nach einer Reform des Urheberrechts. Die schwedische Piratenpartei, die Mutter dieser mittlerweile europaweiten Bewegung, ist ein Kind von Napster. In Schweden wurde und wird Filesharing mit besonderer Hingabe betrieben, und man reagierte mit besonderer Wut, als die Musikbranche den Krieg gegen die eigenen Kunden begann. Die Partei wurde als Reaktion auf geplante strengere Gesetze gegen Datentausch im Internet gegründet, verschrieb sich jedoch schnell weiteren Themen wie Datenschutz und Informationsfreiheit. Heute existieren offiziell registrierte Piratenparteien in 14 europäischen Ländern, besondere politische Durchschlagskraft aber konnten sie kaum entfalten. Nur die schwedische Partei errang bei den Europawahlen im Sommer 2009 mit 7,1 Prozent der Stimmen einen Achtungserfolg und entsandte einen Abgeordneten ins Europäische Parlament. Bei der schwedischen Parlamentswahl im September 2010 aber kam die Partei gerade noch auf ein Prozent. In Deutschland war das viel beachtete Ergebnis bei der Bundestagswahl der größte Erfolg, den die Piratenpartei verzeichnen konnte. Ursula von der Leyen verdanken die deutschen Piraten eine Menge: In den Monaten von Juni bis Oktober 2009 verzehnfachte sich die Mitgliederzahl. Viele Wähler betrachteten eine Stimme für die Piraten wohl als die einzige Möglichkeit, ihrem Protest gegen das Internetsperrgesetz Ausdruck zu verleihen. Danach allerdings brachte die Partei nicht mehr viel zuwege, es gab interne Querelen, einige prominente Mitglieder traten öffentlich mit merkwürdigen Äußerungen in Erscheinung, über politische Inhalte jenseits der digitalen Agenda schien kein Konsens möglich. Ob die Piratenpartei bei der nächsten Bundestagswahl noch einmal in dieser Weise reüssieren kann, scheint nach dem derzeitigen Stand der Dinge mehr als fraglich.
Man muss der schwarz-gelben Bundesregierung zugute halten, dass sie daran einen nicht unwesentlichen Anteil hat. Innerhalb kurzer Zeit haben die etablierten Parteien auf den plötzlichen Aufruhr in Digitalien reagiert, haben das Internet auf ihre Agenda gesetzt und zum Teil sogar begonnen, jenen zuzuhören, die etwas von der Sache verstehen. Der damalige Innenminister Thomas De Maizière (CDU) lud Fachleute zu Gesprächsrunden ein, darunter nicht nur Verbands- und Industrievertreter sondern auch die schärfsten Kritiker seines Amtsvorgängers Wolfgang Schäuble: den AK Vorratsdatenspeicherung zum Beispiel, der eine Verfassungsbeschwerde gegen das entsprechende Gesetz angestrengt hatte, den »Netzpolitik«-Blogger und Datenschutzaktivisten Markus Beckedahl und Constanze Kurz vom Chaos Computer Club. Gerade die alte Hacker-Vereinigung hat sich, gut 20 Jahre nach dem Tod Karl Kochs und dem Prozess gegen die KGB-Hacker, als akzeptierte und sogar wertgeschätzte Lobbygruppe in Sachen digitale Bürgerrechte, Datenschutz und Informationsfreiheit etabliert. Die Tatsache, dass Wahlcomputer in Deutschland bis auf weiteres nicht zum Einsatz kommen werden, weil sie sich manipulieren lassen, verdanken wir
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