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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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Nachricht eine Antwort erhielt. Dennoch war das Modell in den USA in den Achtzigern immens erfolgreich: Insgesamt gab es dort zur Hochzeit der Technologie viele zehntausend Boards – ein Hobby-Computerhistoriker namens Jason Scott hat sich die Mühe gemacht, so viele wie möglich aufzulisten samt dem Namen, dem Namen des Mailbox-Betreibers und der Rufnummer. Die Liste umfasste im Sommer 2010 über 106 000 Einträge.
    1984 entwickelte ein Programmierer namens Tom Jennings zusätzlich das »Fido«-Protokoll, das es erlaubte, die BBSs untereinander zu verbinden: Das erste privat entwickelte, dezentrale, auf Datenfernübertragung basierende Computernetzwerk war geboren. Bezahlbar war all das, weil in den USA schon damals Wettbewerb auf dem Telekommunikationsmarkt herrschte, und die Abrechnungsmodelle andere waren als in Europa. Ortsgespräche waren gewöhnlich kostenlos – was es erschwinglich machte, stundenlange Verbindungen zu einer Mailbox aufrechtzuerhalten, wenn sie in der Nähe lag. In Deutschland verhinderte die Monopolstellung der Bundespost solche Entwicklungen bis weit in die Neunziger hinein. Deutschen Hackern war der Konzern deshalb verhasst.
    In den USA erfreute sich das BBS-System unter den C64-Besitzern größter Beliebtheit. Raubkopierte Spiele wurden in BBS-Speichern abgelegt und von anderen heruntergeladen. Als die Cracker in den USA entdeckten, dass in Europa viele Spiele für ihren Lieblingscomputer erschienen, die den amerikanischen Markt nie erreichten, begannen sie, Kontakte über den Atlantik zu knüpfen. Hochkarätigen Cracker-Gruppen in London, Köln oder Stockholm wurden schließlich Modems aus den USA zugeschickt, wo sie deutlich preiswerter waren. Das war für sich genommen bereits strafbar, denn die US-Modems hatten keine Postzulassung. Kontakte zu den besten Cracker-Gruppen auf der jeweils anderen Seite des Ozeans, womöglich »exklusive« Vereinbarungen über den Zugriff auf frische Ware, wurden zu einem Statussymbol innerhalb der Szene.
    Die Mailbox-Betreiber wurden »Sysops« genannt, kurz für »System Operator«. Der einzige Sysop, den ich jemals persönlich kennengelernt habe, war ein gewisser Daniel, der Klassenkamerad eines Freundes. Daniel entsprach dem Klischee des Extrem-Nerds geradezu schmerzhaft genau: Er war pickelig, pummelig, trug Kleidung, die offenkundig seine Mutter ausgesucht hatte (ich erinnere mich an ein Sweatshirt mit einem lächelnden, flauschigen Comic-Elch und dem obligatorischen Polohemdkragen darüber), und bewohnte ein winziges Zimmer in der Wohnung seiner Eltern. Unter seinem Schreibtisch standen gleich mehrere PCs, von denen einige kein Gehäuse hatten: Daniel hatte Festplatten und andere Komponenten einfach übereinandergestapelt, wobei dicke Bücher die Komponenten trennten. Umrankt war die Konstruktion von einem Gebüsch aus vielfarbigen Kabeln. An der Wand neben dem Schreibtisch hing ein Regal: Darauf waren »Lustige Taschenbücher« aus dem Hause Disney so angeordnet, dass die Rücken wie im Laden ein Gesamtbild ergaben, die Gesichter von Mickey, Donald und seinen Neffen. Die Rechner unter dem Schreibtisch aber machten Daniel in einer anderen, für mich unsichtbaren Welt zu einem kleinen Star, einem Herrscher über ein Miniaturkönigreich. Daniel tat Dinge, die mir noch jahrelang verschlossen bleiben sollten. Heute arbeitet er als Systemadministrator.
    Der pummelige Junge und all die anderen Sysops und Modem-Nutzer in den USA und anderswo wurden damals belächelt – aber sie gehörten zu den Pionieren des Internets. Ein Beispiel: Weil viele der Mailboxen nur über eine einzige Telefonleitung verfügten, war es ein Glücksspiel, ob man zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich Zugang bekam oder nicht. Und weil es dauerte, gecrackte Software herunterzuladen, und man damit die Leitungen eine Zeitlang blockierte, galt im Reich der Cracker-Mailboxen schnell die Regel: Wer herunterlädt, muss auch hochladen. Für reine Downloads wurde der Begriff »Leeching« (von leech=Blutegel) eingeführt. Um bloße »Leecher« fernzuhalten, wurden verpflichtende Verhältnisse von Up- zu Download-Menge festgelegt: Für je drei heruntergeladene Kilobytes musste der Nutzer eines hochladen. Wer keine mit Uploads verdienten »Credits« mehr übrig hatte, durfte nicht mehr weitersaugen. Elite-Cracker bekamen unbegrenzte Credits zugeteilt. All diese Konventionen gibt es noch: In den heutigen Internet-Tauschbörsen gehören die Begriffe Leecher, Seeder (für Nutzer, die

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