Nerd Attack
weil sie niemand mehr haben wollte. Für die Besitzer eines Commodore 64, eines Amiga oder Atari ST aber riss der kostenlose Nachschub an qualitativ hochwertigen Titeln nicht ab. In dieser Zeit wurden Spielegenres entwickelt, die es noch heute gibt, Wirtschaftssimulationen wie »Kaiser« beispielsweise, das meine jüngere Schwester bis zur Besessenheit spielte, einer der Urahnen sogenannter Aufbaustrategiespiele wie »Sim City« oder »Civilization«. Spiele wie »Rambo« oder »Commando« popularisierten ein Genre, das heute »Third Person Shooter« genannt wird: Der Spieler blickt auf seine Spielfigur, lenkt sie durch eine stets äußerst feindliche Welt und nietet mit einem stetig erweiterten Waffenarsenal alles um, was sich drum herum bewegt. Auch wenn man in jenen Tagen noch sehr viel mehr Fantasie brauchte, um in den Pixelhäufchen, die da über einen platten Untergrund krochen, tatsächlich Personen zu erkennen. Die Spiele waren ähnlich brutal und menschenverachtend wie aktuelle Erzeugnisse, es gab jedoch so gut wie keine öffentliche Debatte über Gewaltdarstellungen in Computerspielen. Die tatsächlichen Umsetzungen sahen so abstrakt aus, dass nicht einmal habituell entrüstete Jugendschützer sich darüber so richtig aufregen konnten.
Für mich persönlich war diese Zeit auch deshalb paradiesisch, weil mein zweites Kinderzimmer das erste war, das ich für mich allein hatte. Ich durfte es selbst einrichten und bekam schwarze Möbel, Regale mit Chromgestell und ein Schlafsofa, grau kariert mit bunten Farbklecksen. Daneben stand der graue Computerschrank mit ausziehbarer Platte für die Tastatur und Rauchglastüren. Er wirkte so modern, dass unser kleiner silbergrauer Fernseher mit seinen acht Plastiktasten aussah, als stamme er aus den Fünfzigern.
Multiplayer und Mega-Tetris
Von Anfang an suchten wir nach Möglichkeiten, gemeinsam mit dem Computer zu spielen, aber das war zunächst gar nicht einfach. In der Regel saßen Grüppchen von zwei bis fünf Kindern vor dem Fernseher und wechselten sich ab. Man wartete die meiste Zeit darauf, endlich auch mal dranzukommen. Spiele machten so immer am meisten Spaß, Verknappung schafft Nachfrage. Waren die Gäste weg, verschwand mit ihnen oft auch der Reiz.
Spiele mit Mehrspielermodus, für die man mindestens zwei Joysticks benötigte, waren nicht anders als heutzutage meist auf Wettkampf ausgelegt: Leichtathletik, Autorennen, Tennis, Ballerspiele. Damit es nicht dauernd Krach gab, erfanden meine kleine Schwester und ich kooperative Spielmodi für zwei: Bei »Commando« durfte der eine lenken und schießen, der andere mit der Space-Taste Handgranaten werfen, und bei »Wizard of Wor« konnte man darauf verzichten, den Mitspieler abzuschießen, und sich stattdessen gegen rote Killerkrabbben und gelbe Ratten zusammentun.
»Tetris« spielten wir abwechselnd. Wir stapelten stundenlang die Klötzchenkonfigurationen des Russen Alexey Pajitnov aufeinander und lauschten dabei der hypnotischen, bis heute faszinierenden Musik, die ein gewisser Wally Beben für die 64er-Version komponiert hat: Ein alles in allem 26 Minuten langer Track aus verschachtelten Loops, unterlegt mit einem synkopisch knirschenden Klopfzeichen-Beat, gelegentlich unterbrochen von kratzigen Pseudogitarrensounds, die heute nach Acid House klingen.
Elektronische Musik wurde ab der Mitte der Achtziger zum Rock’n’Roll eines neuen Underground, in London begannen die Hipster, sich Smiley-T-Shirts überzuziehen, Ecstasy zu schlucken und zum programmierten Sägen, Wummern und Quietschen von 303- und 909-Synthesizern aus dem Hause Roland zu tanzen. In Detroit erfanden ein paar Radikale den Techno. Eine neue Avantgarde begann, das Tabula-rasa-Prinzip des leeren Bildschirms auf die Tanzmusik anzuwenden, Pop wurde dekonstruiert und aus seinen kleinsten Einzelteilen wieder neu zusammengesetzt. In der Musik verlief die digitale Revolution schneller und radikaler als in jedem anderen Bereich.
Von den wilden, von Amphetaminen angetriebenen Anfängen der Rave-Bewegung wussten wir in der deutschen Provinz rein gar nichts. Wir fanden, dass richtige Musik mit Gitarren gemacht wurde. Programmierte Beats waren etwas für Plastikpop wie dem der verhassten Produzententruppe Stock, Aitken, Waterman, die uns mit Rick Astley, Kylie Minogue, Mel & Kim und zahllosen anderen, immer gleich klingenden Retorten-Acts im Radio quälte. Musik aus Computern, darüber herrschte in meinem Freundeskreis absolute Einigkeit, war von
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