Nerd Attack
Collegefilm »Revenge of the Nerds« von 1984 gehört der Nerd, manchmal auch Geek genannt, zum Standardrepertoire Hollywoods: Wenn der Held eines Films mal jemanden braucht, der am Rechner blitzschnell einen Code knacken oder eine lebenswichtige Information herausfinden kann, ist stets ein junger Mann zur Stelle, der eine Brille trägt oder übergewichtig ist. Meistens beides. Und der sich immer für Dinge wie Orks, »Star Wars« oder Superhelden interessiert. Überproportional häufig sind Nerds auch die heimlichen Helden von College-Filmen oder Fernsehserien, die personifizierten Underdogs, die sich gegen die Stärkeren, Hübscheren, Beliebteren durchsetzen, allein kraft ihres Geistes. Im dritten Jahrtausend ist Nerd-Ästhetik und Nerd-Kultur zum Mainstream geworden: Erfolgreiche Fernsehserien wie »The IT Crowd« aus Großbritannien oder »Big Bang Theory« aus den USA feiern sozial gehemmte, fantasybegeisterte und computerbesessene Helden, und prototypische Nerds wie Bill Gates (schüchtern, Brille) oder Steve Wozniak (schüchtern, pummelig) sind zu sehr reichen und einflussreichen Menschen geworden. Als Schimpfwort ist »Nerd« heute kaum mehr zu gebrauchen. Noch immer aber steht der Begriff für Menschen, die bereit sind, in erfundenen Welten oder ungewöhnlichen Freizeitbeschäftigungen vollständig abzutauchen.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden ich mit »Elite« verbracht habe, aber es dürften zusammengerechnet viele Wochen gewesen sein. Obwohl das Spiel nur aus karger, manchmal ein bisschen ruckeliger Vektorgrafik und Text bestand, übte das Durchreisen des freien, unendlich scheinenden Weltraums eine unglaubliche Faszination aus. Bis heute suche ich dieses Erlebnis in Spielen, das Gefühl, eine unbekannte Welt zu erforschen in der Hoffnung auf Überraschungen. »Elite« war die erste virtuelle Welt, in der man komplett verschwinden konnte. Hätte man sich die Teenager von damals genau angesehen, wenn ihr Bewusstsein über Stunden vom schwarzen TV-Bildschirm aufgesaugt wurde, man hätte ahnen können, was eine von viel Hype und gewaltigen Mengen verbrannten Geldes getriebene Branche erst viele Jahre später herausfand: Um im Kopf eines Menschen eine virtuelle Realität entstehen zu lassen, braucht man weder Datenhelme noch -handschuhe, keine fotorealistische 3-D-Grafik und keinen Surround-Sound. Das Abstraktions- und Vorstellungsvermögen von Menschen am Computer, das ist die Lehre von »Elite«, ist gewaltig. Eine virtuelle Welt muss vor allem eine überzeugende Mechanik bieten und nicht zwingend eine realistische sinnliche Erfahrung (auch wenn das nicht schaden kann). Die Datenbrillen und Cyber-Handschuhe, die in den Neunzigern in jedem zweiten Artikel über die Zukunft der digitalen Welt abgebildet waren, erscheinen einem heute wie fremdartige Requisiten aus einer Zukunft, die dann doch nicht Gegenwart wurde. Wie die Kulissen aus den Science-Fiction-Serien der Sechziger und Siebziger.
Virtuelle Welten dagegen gehören für Millionen Menschen überall auf der Welt zum Alltag, von »World of Warcraft« bis »Second Life«, von der Weltraumsimulation »EVE Online« (die viel mit »Elite« gemeinsam hat) bis zur digitalen Cartoon-Welt »Club Penguin«, in der Kinder mit Pinguin-Avataren unterwegs sind. All diese Angebote erlauben Ausflüge in ausgedachte, simulierte Universen. Um dorthin zu gelangen, braucht man nicht mehr als einen Computer und eine Internetverbindung. Ein einfacher Monitor scheint Menschen als Fenster in virtuelle Welten völlig auszureichen.
Für mich persönlich haben erst die Spiele der »Grand Theft Auto«-Serie dieses Erlebnis einer offenen, frei zu erkundenden Welt so richtig wiederbelebt. Möglich gewesen wäre das auch in Online-Rollenspielen wie »Ultima Online« oder, später, eben »World of Warcraft«, aber ich bin mit diesen von vielen gleichzeitig durchwanderten Spielwelten nie so richtig warm geworden. Vielleicht hat mir »Elite« ein Bedürfnis nach der majestätischen, cowboyhaften Einsamkeit des Weltraumpiloten eingepflanzt. Die extremste Form von Eskapismus führt in Welten, in denen man vollständig allein ist.
Cyberpunks und enge Mieder
In den Achtzigern war die Angst vor Umweltzerstörung, Krieg und nuklearem Holocaust ständig gegenwärtig. Aus unserer Sicht war die exzessive Beschäftigung unserer Generation mit virtuellen Welten aber eben keine Flucht vor diesen realen Bedrohungen, sondern folgerichtig und ganz normal: Was hätte es Interessanteres
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