Nerd Attack
oder »The Cure«. Die Popjournalisten, die sie in den Himmel loben, haben in ihrer Jugend die Originale gekannt, auch sie gehören eben zur Generation der Dauernostalgiker. Selbst Schulterpolster und asymmetrische Haarschnitte sind wieder da. Als Nächstes werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zuerst Grunge und dann Techno, Triphop und Drum ’n Bass wiederauferstehen oder besser: aus den Nischen, in denen sie überwintert haben, zurück in den Fokus der popkulturellen Aufmerksamkeit wandern.
Einen klar definierten Popkultur-Mainstream gibt es längst nicht mehr, die verschiedenen Epochen und ihre modischen, musikalischen, künstlerischen Zeichen existieren friedlich und gleichberechtigt nebeneinander, alle gehen ein in den großen postmodernen Fundus, aus dem sich jeder seine Subkulturidentität zusammenbasteln kann. Natürlich spielt daneben weiterhin Neues eine Rolle: Manga-Comics aus Japan sind jetzt deutscher Mainstream, wir haben die Otaku-Kultur geerbt, die Comic-Held-Verkleidungen zum modischen Statement erhoben hat, und Visual Kei, die Subkultur mit den geschminkten Jungs, den Haarsprayskulpturen und dem schrillen Synthipop. Deutschlands derzeit erfolgreichste Band Tokio Hotel verkörpert die popkulturelle Flexibilität der heute um die 20-Jährigen sehr anschaulich: Während Frontmann Bill Kaulitz wie ein Visual-Kei-Elf aussieht, gibt sein Bruder Tom mit Rastazöpfen den Alternativrocker, die beiden übrigen Bandmitglieder rotieren in ihrem Äußeren durch den Fundus der Popgeschichte, von Rocker bis zum Britpopper. Nachschub ist unerlässlich, denn schon sehr bald werden die zitablen Strömungen der Vergangenheit aufgebraucht sein. Die Nostalgiewelle kommt immer näher. Was wohl passiert, wenn sie sich an den Küsten der Gegenwart bricht?
Aggressive Wehmut
Meist ist Nostalgie harmlos und friedfertig, gelegentlich aber nimmt sie aggressive Züge an. Ungemütlich wird es immer dann, wenn jemand aus der Verklärung des Vergangenen eine Ablehnung des Gegenwärtigen ableitet. Der Musikpsychologe Adrian North von der University of Leicester etwa veröffentlichte 2006 eine Studie, derzufolge die MP3-Datei Musik entwerte: »Im 19. Jahrhundert wurde Musik als wertvoller Schatz mit grundlegenden und fast mystischen Kräften zur menschlichen Kommunikation betrachtet: Sie wurde in klar definierten Kontexten erlebt, und ihr Wert stand in unmittelbarem Bezug zu diesen Kontexten«, schrieb North. Heute sei es damit vorbei. Und schuld daran sei Steve Jobs.
Nicht der Apple-Chef direkt und allein. Aber all die großen und kleinen Steve Jobs dieser Welt, die Musik über das Internet verkaufen und von da aus direkt in die Gehörgänge der Jugend von heute schleusen. »Weil Musik unterschiedlichster Arten und Genres jetzt so weithin verfügbar ist, über tragbare MP3-Player und das Internet, lässt sich argumentieren, dass die Menschen Musik jetzt viel stärker aktiv in alltäglichen Hör-Kontexten nutzen als je zuvor.« Schlimmer noch, »die Hörkontexte entscheiden am Ende über den Wert, den die musikalische Erfahrung für den jeweiligen Zuhörer hat.« Und da wird es für North problematisch: »Der Grad der Verfügbarkeit und Auswahlmöglichkeiten hat zu einer eher passiven Einstellung zu Musik geführt, die man im Alltag hört.«
Im Klartext: North will herausgefunden haben, dass wir Musik einfach nicht mehr genug lieben. Es ist zu vermuten, dass der Musikologe Balzacs Gesellschaftsromane aus dem 19. Jahrhundert nicht kennt, in denen die bessere Gesellschaft zwar ständig in die Oper geht, aber nicht um Musik als »wertvollen Schatz mit grundlegenden und fast mystischen Kräften« zu erleben, sondern um während der Vorstellung zu tratschen und Intrigen zu spinnen. Ähnliches ließe sich für zahllose andere Arten des vor- und frühindustriellen Musikkonsums nachweisen. Auch Gin trinkende Arbeiter in den Kneipen von Sheffield oder Manchester Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen den Fiedler auf der Bühne vermutlich eher beiläufig wahr.
Fast gleichzeitig mit North meldete sich 2006 Pete Townshend zu Wort, der ehemalige Gitarrist von »The Who«, die jahrelang als lauteste Band der Welt im Guinnes-Buch der Rekorde standen. Er hört heute sehr schlecht, weil er viele Jahre lang neben vorsätzlich bis zum Anschlag aufgedrehten Lautsprechertürmen Gitarren zerschlagen hat. Townshend warnte jedoch nicht vor Rockkonzerten – sondern vor MP3-Playern: »Wenn Sie einen iPod oder so etwas benutzen oder Ihr
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