Nerd Attack
Wochenendseminar der örtlichen Volkshochschule hatte er gelernt, aus selbst gekauften Komponenten einen Rechner zusammenzuschrauben. Der 486er, den Georg sich bastelte, sei eine »rattenscharfe Maschine« gewesen, erinnert er sich heute, auch wenn sie noch unter DOS lief und es deshalb mit Aufwand verbunden gewesen sei, den gesamten Arbeitsspeicher auszunutzen. Dass PCs heute neben Konsolen wie Microsofts Xbox 360 und Sonys Playstation 3 die mächtigsten Spielgeräte der Welt sind, hat wieder viel mit dem Tabula-rasa-Prinzip zu tun. Ein Personal Computer ist ein Rechner, der sich an bestimmte Standards in Sachen Hardware zu halten hat, die jedoch offenliegen und für jedermann zugänglich sind. Jedes Unternehmen kann PC-Hardware bauen, Grafikkarten, Speicherchips, Festplatten. Aus diesen Komponenten, deren Anschlüsse und Datenformate ebenfalls bestimmten Standards entsprechen müssen, kann man sich einen Rechner in nahezu beliebiger Form zusammenstellen. Wird die alte Grafikkarte mit den neuen Spielen nicht mehr fertig, die Festplatte zu klein, baut man einfach eine neue ein. Ein PC ist ein »generatives System« im Sinne des Oxford-Juristen Jonathan Zittrain: Wir können heute damit Dinge anstellen, die sich gestern noch niemand vorzustellen vermochte. So ist es möglich, Hardware einzubauen, die es bei seiner Konstruktion noch gar nicht gab – Blu-ray-Laufwerke zum Beispiel oder Grafikkarten mit 3-D-Fähigkeiten –, und man kann verschiedene Arten von Software installieren, sogar völlig unterschiedliche Betriebssysteme. Nicht nur Windows. Georg sagt, er zehre bis heute von dieser Erfahrung und habe immer noch keine Angst, »bei jedwedem PC mal zum Schraubenzieher zu greifen und einen größeren Vergasertopf unter die Haube zu bauen«.
Nachts wurde der Monitor seines Eigenbauboliden zum Eingangstor in eine düstere Welt. Wer sie einmal betreten hatte, war ihr schnell verfallen. »Doom« beginnt auf einer Marinebasis auf dem Mars, die von wahnsinnig gewordenen Weltraum-Marines und gehörnten Dämonen mit überraschend pinkfarbenen Hauttönen bevölkert wird. Ein skrupelloses Wirtschaftsunternehmen hat bei seinen Experimenten versehentlich ein Portal zur Hölle geöffnet, und nun wandeln die Geschöpfe Satans laut grunzend über den roten Planeten. Der Plot erinnert an eine Mischung aus H. P. Lovecraft und Ridley Scotts »Alien« – eine klassische Nerd-Kultur-Melange von Genrezitaten. Bis heute ist das »Die Geister, die ich rief«-Motiv eine der Standardgeschichten von Ego-Shootern, wie der Medienwissenschaftler Matthias Mertens notierte. »Quake«, »Half-Life«, »Descent«, »Far Cry«, »Bioshock« und andere Spiele, die nach diesem Muster funktionieren, versetzen den Spieler an dystopische Orte, die allein menschliche Hybris so schrecklich und gefährlich gemacht hat. Weil ein Tor ins Grauen geöffnet oder der eigene Lebensraum zerstört wurde, weil künstliche Wesen oder Roboter außer Kontrolle geraten sind. Das Spielgenre, das wie kein anderes kontinuierlich Hardware-Aufrüstung einfordert, transportiert ein ums andere Mal die Warnung vor den Gefahren unkontrollierten technischen Fortschritts.
In »Doom« steigt der Spieler nach und nach in immer grausigere Gefilde hinab, bereist die Marsmonde Phobos und Deimos und schließlich die Hölle selbst. Mit einem Waffenarsenal, das von der Pistole über Schrotflinte und automatische Waffen bis hin zu einer Kettensäge und einer Plasmawaffe namens BFG 9000 (was angeblich für »Big Fucking Gun« steht) reicht, muss er nicht enden wollende Horden von abscheulichen Kreaturen niedermetzeln, in ständiger Angst, dass sich eines der hässlichen Wesen von hinten anschleichen könnte. Manche von ihnen können sich sogar unsichtbar machen. Zu sehen ist auch die Spielfigur selbst nie: »Doom« etablierte den Blick über den Lauf der eigenen Waffe hinweg als Standardperspektive für Computerspiele und hievte Spieler auf bis dahin unbekannte Stresslevel.
Aus dem Blick durch die Frontscheibe eines Raumschiffs war der Blick durch die Augen einer unsichtbaren Spielfigur geworden. Folgerichtig zeichnen sich Ego-Shooter-Helden in der Regel durch vollständige Abwesenheit einer erkennbaren Persönlichkeit aus. Sie sind leere Hüllen, vom Spieler selbst mit Emotion und Motivation zu füllen. Ego-Shooter basieren auf dem genauen Gegenteil einer auktorialen Erzählweise: Statt durch die Augen eines allwissenden Erzählers sieht der Spieler die Welt durch die eines nichts
Weitere Kostenlose Bücher