Nerd Attack
Kind, KÖNNTEN Sie Glück haben ... Aber meine Intuition sagt mir, dass entsetzliche Probleme auf Sie zukommen«, schrieb Townshend auf seiner Website. MP3s seien schlecht für die Ohren.
Die Warnung ist durchaus berechtigt – allzu lautes Musikhören mit Kopfhörern ist Ohrenärzten ein Graus. Doch dass ausgerechnet der von ehrlichem, analogem Boxenlärm beschädigte Townshend diese Warnung formulierte, mutet doch seltsam an. Townshend ist nicht der einzige Musiker, der Probleme mit Musikdateien hat. Neil Young zum Beispiel sprach im Zusammenhang mit MP3s einmal von Sound auf »Kinderspielzeugniveau«. Musik sei zu einer Art Tapete geworden, sei heutzutage eher »Muzak«, Fahrstuhlmusik: »Wir haben heute schöne Computer, doch es fehlt an hochaufgelöster Musik.« Dabei weinen verliebte Teenager selbstverständlich immer noch genauso zu ihrem Lieblingssong wie 1970, als der schlechte Sound eben nicht aus Kopfhörern, sondern den Monolautsprechern von Kofferadios kam. Als hätten Youngs Fans von damals alle 4000-Dollar-Stereonalagen von Nakamichi im Regal gehabt.
In Wahrheit gehören North, Townshend und Young zu den vielen radikalen Datenträgerbewahrern. Ihre Begeisterung für die Vergangenheit wendet sich explizit gegen den Lebensstil der Gegenwart. Deshalb finden sie, dass MP3s keine richtige Musik mehr sind. Dass sie die Ohren kaputt machen und der Musik die Seele rauben. Die Linie derer, die auf die jeweils Jüngeren herabblicken, verläuft heute von den »Gitarren-und-echter-Schweiß«-Verfechtern über die Vinylfetischisten bis hin zu den CD-Käufern, die jetzt – endlich! – wenigstens auf die MP3-Hörer herabblicken dürfen. Ihre Warnungen und Wertungen klingen zunehmend schriller. Weil sie insgeheim wissen, dass der Wandel nicht aufzuhalten ist.
Die aggressive Art der Nostalgie findet man auch bei Jüngeren, besonders häufig aber ist sie bei den Angehörigen jener Generation anzutreffen, die nicht mit freundlichen Computern als Spielgefährten im Kinderzimmer aufgewachsen ist. In deren Leben die Digitalisierung scheinbar unvermittelt und mit unerwarteter Wucht eingebrochen ist und als unverrückbar geltende Überzeugungen über den Haufen geworfen hat. Diese zuweilen regelrecht wütende Abwehrhaltung bezieht sich nicht nur auf Detailaspekte des technologischen Wandels, sondern oft auch auf das große Ganze. Gerade in Deutschland begegnen Teile der Gesellschaft dem Internet und allem, was es mit sich bringt, mit Verunsicherung, Furcht und gelegentlich unverhohlener Abscheu. 35 Prozent der Deutschen waren Studien zufolge 2010 noch sogenannte Offliner. Unter ihnen, notierten die Autoren des jährlich erscheinenden (N)Onliner-Atlas, sind die Ängste und negativen Einstellungen gegenüber dem Internet besonders ausgeprägt.
Eine defensiv-aggressive Weigerung, den Wandel zu akzeptieren, ist eine zentrale Ursache für den tiefen Graben zwischen (meist) älteren und (meist) jüngeren Bewohnern dieses Landes, zwischen den analogen und den digitalen Deutschen. Beherrscht aber wird das Land noch von Ersteren.
In den Altersgruppen, die mit dem permanenten technologischen Wandel einer zunehmend digitalisierten Umwelt groß geworden sind, nimmt das wehmütige Rückerinnern meist harmlosere, friedfertigere Züge an. Sie versuchen, das Vergangene zu bewahren, indem sie sich kleine, besonders lieb gewonnene Stückchen davon als private Anker erhalten, die aggressive Ablehnung des Neuen ist ihnen fremd. Schließlich wäre sie wenig hilfreich in einem Leben, in dem ständige Neuerungen von Anfang an die Regel waren.
Die Cracker, Democoder und Mailbox-Fans der Achtziger hatten uns, wenn auch nur unterschwellig, eines gelehrt: Programmierbare Maschinen ermöglichen immer wieder Dinge, die man ihnen eigentlich nicht zugetraut hätte. Sie machen Vertrautes obsolet und schaffen Neues, Interessantes, Aufregendes. Morgen wird die Welt womöglich schon wieder anders aussehen als heute. Das Tabula-rasa-Prinzip wurde uns unbewusst aber unauslöschlich eingeimpft. Und bereitete uns so auf das vor, was als nächstes kam.
Die größte Tabula rasa der Welt war zu der Zeit, als meine Klassenkameraden und ich mit »PageMaker« digital publizieren lernten, Anfang bis Mitte der Neunziger, noch ziemlich unterentwickelt – und doch schon kurz davor, die Welt radikaler zu zu verändern, als die Digitalisierung allein das geschafft hätte: das Internet.
Kapitel 7
Werkzeuge für Weltenschöpfer
Am 10. Dezember 1993
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