Nerd Attack
Steinhäuser sei ein »Counter-Strike«-Fanatiker gewesen, entstammt einer gefälschten Website, die kurz nach der Tat von einem Trittbrettfahrer ins Netz gestellt wurde.
Trotzdem bleibt es für viele das »Killerspiel« schlechthin, schließlich zahlen sich exakte Kopfschüsse darin besonders aus. Die Art und Weise, wie in Deutschland über »Counter-Strike« gesprochen wurde und wird, treibt seine Fans bis heute zur Weißglut, was unter anderem damit zu tun hat, dass der Kurzschluss »›Counter-Strike‹-Amoklauf« nach wie vor verbreitet ist, bei Politikern ebenso wie in den Medien.
Die Spieler fühlen sich mittlerweile verfolgt und reagieren, manche mit Demonstrationen, Petitionen und Unterschriftensammlungen. Andere gehen subtiler vor: Sie zelebrieren ihr Spiel als abgeschlossene Subkultur. Um »Counter-Strike« herum ist ein regelrechter Kult entstanden, bei YouTube allein finden sich über 450 000 Videos zum Thema. Einige Fans modifizieren sogar die Modifikation: Sie lassen statt maskierten Terroristen und Spezialeinheiten zum Beispiel Bart und Homer Simpson gegeneinander antreten.
Schon vor Jahren haben auch Street-Art-Künstler wie Banksy »Counter-Strike« als eine Art digitalen öffentlichen Raum entdeckt. In manchen Arenen zieren subversive Graffiti die Wände: »Diese Map wird bald Nike-Map heißen.« Andernorts findet man Banksys pinkelnden königlichen Gardisten an den Wänden, komplett mit Bärenfellmütze und Paradegewehr.
Die vermeintlichen potenziellen Killer verfügen durchaus über Selbstironie. Es gibt satirische »Counter-Strike«-Cartoons, Zeichentrickfilme und eine Menge Heimvideos, in denen junge Männer in Tarnanzügen die absurderen Seiten des Spiels persiflieren: die abgehackten Bewegungen der Spielfiguren, immergleiche Türquietschgeräusche, aus dem Nichts auftauchende Gegner. Um über »Counter-Strike«-Humor allerdings wirklich lachen zu können, muss man selbst Spieler sein.
Die Beispiele »Counter-Strike« und »Doom« machen deutlich, wie verzweigt und unvorhersehbar die Konsequenzen sein können, wenn generative Systeme in die Hände vieler Menschen geraten. Die flexible Hardware des PC, die flexible Shooter-Software, die flexible Architektur des Netzes und die scheinbar grenzenlose Kreativität der Szene haben ein Ökosystem hervorgebracht, in dem nun bereits seit vielen Jahren weiterhin ständig Neues entsteht. Ohne das Internet hätte all das nicht funktioniert, obwohl es, als »Doom« herauskam, eigentlich noch immer in den Kinderschuhen steckte. Um als deutscher Student in der ersten Hälfte der Neunziger einen Zugang zu diesem faszinierenden, geheimnisvollen neuen Medium zu bekommen, musste man noch einige Hürden überwinden.
Kapitel 8
Die Liebe, der Sex und das Netz
Am 3. Mai 2000 gingen weltweit E-Mails mit der Betreffzeile »ILOVEYOU« ein. Wer den harmlos aussehenden Anhang namens »LOVE-LETTER-FOR-YOU« öffnete, startete damit ein Programm, das einen E-Mail-Wurm sofort an das gesamte eigene Adressbuch weiterleitete. Dann lud es ein weiteres Programm herunter, das alle E-Mail-Adressen und Passwörter auf der Festplatte aufspürte und auf die Philippinen schickte sowie Grafik- und Musikdateien löschte. Chaos war die Folge. Mail-Server rund um den Globus kollabierten. Die Tagesschau meldete »Staus im Internet«, Innenminister Otto Schily stellte ein Antivirengesetz in Aussicht. ILOVEYOU befiel weltweit geschätzte 10 Prozent aller ans Internet angeschlossenen Rechner, 45 Millionen in den ersten 24 Stunden. Der Gesamtschaden wird auf 5,5 Milliarden Dollar geschätzt. Am Tag nach dem Ausbruch konstatierte das Online-Magazin »Salon« wehmütig: »Über Nacht ist ›Ich liebe dich‹ im Internet zum furchterregendsten aller Sätze geworden.«
Das Rechenzentrum der Universität Würzburg liegt auf einem Hügel. Von dort hat man einen weiten Blick über die Stadt mit ihren Kirchtürmen bis hinüber auf die Hänge auf der anderen Seite des Maintals, auf die Feste Marienberg und ein barockes Kirchlein namens Käppele. Um als Student ins Netz zu gelangen, musste man Mitte der Neunziger den Blick von der Stadt abwenden und in den Keller hinabsteigen. Den Weg ins Tiefgeschoss versperrte eine Gittertür, beobachtet von einer Überwachungskamera. Um das Gitter zu öffnen, wedelte man mit einer kleinen graue Plastikkarte (10 D-Mark Pfand) so lange vor einem Sensor herum, bis ein Piepsen anzeigte, dass der Weg in die Weiten des Netzes nun frei war.
Im Keller
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