Nerd Attack
heute als Klassiker geltenden Ego-Shooter »Half-Life« im Besonderen. Die beiden angehenden Informatiker interessierten sich aber darüber hinaus für die Möglichkeiten, die der Umbau solcher Spielwelten bietet, die Anwendung des Tabula-rasa-Prinzips auf Ego-Shooter. Spätestens seitdem Carmack und Romero die »Doom« zugrunde liegende Software als Open Source jedermann zur freien Verfügung überlassen hatten, boomte diese Szene. Cliffe und Le begannen nun ihrerseits, gemeinsam eine sogenannte Mod (»modification«) ihres Lieblingsspiels zu entwickeln, eine abgewandelte Version von »Half-Life«. Sie brachten die von Aliens überrannte, von wissenschaftlicher Hybris an den Abgrund gebrachte Welt des Originals zum Verschwinden und erschufen etwas völlig Neues und gleichzeitig Uraltes: eine über Netzwerkkabel oder das Internet spielbare Version von »Räuber und Gendarm«. Sie nannten ihre Schöpfung »Counter-Strike«. Dieses Hobbyprojekt gestattete eine Spielweise, die bis dahin für Shooter eher ungewöhnlich war: Man kann darin in Teams gegeneinander antreten. Die kooperativen Spiele, die meine Schwester und ich am 64er in den achtziger Jahren so vermisst hatten, fehlten auch Cliff und Le. Also entwickelten sie selbst eines.
In »Counter-Strike« steht eine Mannschaft von meist vier oder fünf »Terroristen« einer in der Regel ebenso großen Zahl von »Antiterrorkämpfern« gegenüber. Die Spielrunden sind kurz, meist maximal fünf Minuten. Die einen müssen entweder eine Bombe legen oder Geiseln bewachen, die anderen die Bombe entschärfen oder die Geiseln befreien. Wird eine Spielfigur getötet, muss der Spieler bis zum Beginn der nächsten Runde zusehen. »Counter-Strike« gilt als der erste »taktische Shooter« – wenn die Teammitglieder nicht koordiniert zusammenspielen, haben sie kaum eine Chance. Auf genau so etwas hatte die Spielerszene gewartet. Innerhalb weniger Wochen wollten Zehntausende »Counter-Strike« spielen. Es ist für Computerspiele das, was Wikipedia für Lexika und Linux für Betriebssysteme ist: der erste Welterfolg, der von Amateuren unentgeltlich in ihrer Freizeit entwickelt wurde. Gleichzeitig ist es eines der langlebigsten Computerspiele der Geschichte. Was wiederum mit seiner Flexibilität zu tun hat: Bis heute entwickeln »Counter-Strike«-Spieler in aller Welt ständig neue »Maps«, Spielarenen, die wieder neue taktische Herausforderungen schaffen. Der langfristige Erfolg des Hobbyprojekts aus dem Jahr 1999 ist nicht zuletzt der unermüdlichen Arbeit all dieser Hobbyweltenschöpfer zu verdanken.
Der Hersteller des Rohmaterials »Half-Life«, aus dem Le und Cliffe ihren Überraschungserfolg geformt hatten, reagierte gelassen und klug auf die kostenlose Konkurrenz. Das Spielestudio Valve bot den beiden Studenten einen Job an. Im November 2000 erschien »Counter-Strike« als offizielles Valve-Produkt. Es verkaufte sich in den folgenden Jahren 4,2 Millionen Mal, die beiden aufpolierten Nachfolgerversionen noch einmal über 4 Millionen Mal. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt, ob tags oder nachts, sind Zehntausende rund um den Globus mit dem Taktik-Shooter beschäftigt. Aus der Welt der Computerspielturniere, in denen Spieler unter Wettkampfbedingungen gegeneinander antreten und Profis heute stattliche Summen verdienen, ist »Counter-Strike« nicht wegzudenken. Es gilt wegen seiner extremen Popularität als »Fußball des E-Sports«.
Dass ausgerechnet dieses Spiel, in dem Kooperation wesentlich ist, hierzulande als Paradebeispiel für die verderbliche Wirkung von Computerspielen gilt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Spätestens seitdem der Erfurter Robert Steinhäuser am 26. April 2002 in seinem ehemaligen Gymnasium in Erfurt 16 Menschen und anschließend sich selbst erschoss, ist »Counter-Strike« in Deutschland zur Chiffre geworden, zum Kampfbegriff. Es gilt seither als das prototypische Gewaltspiel, vor dem Politiker und Pädagogen warnen, obwohl die Untersuchungskommission, die das Massaker aufklären sollte, befand, dass der Amokschütze sich zwar wohl auch von brutalen Computerspielen habe inspirieren lassen, aber zugleich klarstellte, »dass Robert Steinhäuser nicht die Nächte durch ›Counter-Strike‹ gespielt hat und ›Counter-Strike‹ kein Dauerbrenner von Robert Steinhäuser gewesen ist«. Tatsächlich hatte der PC des pathologischen Einzelgängers gar keinen Internetanschluss – und allein kann man »Counter-Strike« nicht spielen. Die Behauptung,
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