Nerd Attack
gab es Sichtbeton, klimatisierte Server-Räume, lange Flure mit Büros und ein paar Computer-Pools, in denen auf langen weißen Kunststofftischen Desktop-PCs und klobige Monitore standen. Betreten durften diese Schatzkammern nur Auserwählte: Studenten der Mathematik oder Informatik. Sie missbrauchten dieses Privileg, wie bis heute nahezu jeder, dem ein Rechner zu Arbeitszwecken gestellt wird. 1994 traf ich dort einen Informatiker namens Jürgen, der gerade mit einem Bekannten in Norwegen Backgammon spielte. Ein anderer schäkerte online mit seiner Freundin, die ein Jahr in England studierte, einige spielten Rollenspiele wie »Multi User Dungeon« (MUD) oder das deutsche »Morgengrauen«. Frühe Online-Fantasy-Spiele waren schon ein bisschen wie »World of Warcraft« – mit Orks, Magiern, verwunschenen Orten –, aber ohne Grafik, maximal abstrahiert, weit weg von »Elite«, von »Doom« ganz zu schweigen. Von herkömmlichen Computerspielen unterschieden sie sich aber dadurch, dass sie bewohnt waren, und zwar von echten Menschen. Manchmal, verriet mir mit Verschwörermiene ein Informatiker mit schwarzem T-Shirt, Brille und langem Haar, würde in den digitalen Universen da draußen im Internet sogar geheiratet. Virtuell, versteht sich. Natürlich, fügte er mit einer gewissen Schamhaftigkeit hinzu, wisse man nie, ob die Elfenschönheit, der man da gerade das Jawort gegeben hatte, nicht vielleicht auch ein bleicher Student in einem Sichtbetonkellerverlies war.
Das WWW existierte damals zwar bereits, aber es war eine kleine, wenig genutzte Unterkategorie des Internets. Einer der Studenten zeigte mir stolz den Mosaic-Browser, der am amerikanischen National Center for Supercomputing Applications entwickelt worden war. Mit dem Geld übrigens, das Al Gore unter dem Einfluss Mitch Kapors für die Entwicklung der Netztechnologien lockergemacht hatte. Mosaic zeichnete sich dadurch aus, dass er nicht nur Text, sondern auch Grafiken anzeigen konnte, ohne dass man sie eigens herunterladen musste. Das Programm war der Vorläufer des legendären ersten kommerziellen Browsers Netscape. Dessen Gründer Marc Andreessen leitete auch das Team, das Mosaic entwickelte. Die ersten paar Web-Seiten, die es damals zu sehen gab, waren jedoch noch nicht sonderlich spektakulär.
Tim Berners-Lee hatte das Prinzip WWW am Kernforschungszentrum Cern in Genf erfunden und im Sommer 1991 erstmals öffentlich gemacht. Im Grunde tat er nichts anderes, als eine uralte wissenschaftliche Konvention technisch neu umzusetzen: den Querverweis. Der so simple wie geniale Einfall des Hypertextes, der ein Stück Text in eine Verbindung zu einem anderen Dokument verwandelt, war eigentlich schon viel älter. Schon 1945 hatte ein in der US-Rüstungsforschung tätiger Ingenieur namens Vannevar Bush einen wegweisenden Artikel mit dem Titel »As we may think« (Wie wir vielleicht denken werden) veröffentlicht. Darin entwarf er den Gedanken eines maschinellen Universalgedächtnisses, in dem jede Art von Information gespeichert und mit anderen Informationen verknüpft sein würde. Sein »Memory Extender«, kurz Memex, war den tatsächlichen technischen Möglichkeiten der Zeit jedoch so weit voraus, dass er damals überwiegend als Science-Fiction betrachtet wurde. Das Konzept war somit bereits erfunden, als der Soziologe Ted Nelson 1960 das Wort »Hyptertext« dafür prägte. Nelsons »Project Xanadu« sollte eine praktische Umsetzung der digitalen Universalbibliothek werden, die Vannevar Bush sich 1945 ausgemalt hatte, doch es kam über die Prototypenphase nie hinaus. Es dauerte weitere 31 Jahre, bis Berners-Lee die erste Web-Seite der Welt ins Netz stellte. Seine Idee des WWW hatte aber noch eine andere wichtige Implikation, wieder ganz im Geiste der Hacker-Ethik Steven Levys: Jede WWW -Seite sollte für jedermann zugänglich sein, geschlossene Bereiche waren nicht vorgesehen. Jede Seite sollte gleichrangig neben allen anderen stehen dürfen, keine Information prominenter, leichter zugänglich sein als andere.
Ich selbst konnte die Begeisterung der Informatikstudenten für diese brandneue Technologie namens »World Wide Web« 1994 nicht so recht verstehen. Die Tatsache, dass da gerade jemand mit seiner Freundin in England ein getipptes Live-Gespräch führte, fand ich viel interessanter. In dem Artikel, den ich am Ende über den Besuch in den kybernetischen Katakomben schrieb, kamen Mosaic und das WWW nicht einmal vor. Die Überschrift lautete »Liebesgeflüster
Weitere Kostenlose Bücher