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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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deines Mitbewohners, per Nachnahme«, oder »Lass Stofftiere von Henkersschlingen an der Decke baumeln. Wenn du an ihnen vorbeikommst, murmle: ›Ihr hättet das eben nicht tun sollen.‹« Nach der Lektüre war ich doppelt froh, im englischen Wohnheim ein Einzelzimmer zu haben.
    Für Studenten in aller Welt war das Internet Mitte der Neunziger nicht der »Information Superhighway«, von dem Al Gore und die US-Telekom-Branche träumten, sondern vor allem ein soziales, ein privates Medium. Die wenigen Websites und sonstigen Angebote, die es so gab, waren gelegentlich interessant, oft lustig, manchmal nur dämlich: Uni-Homepages mit Listen von Forschungsprojekten, seitenlange, euphorische Erfahrungsberichte von Drogenkonsumenten samt Empfehlungen für die passende Musik, öde Firmen-Websites mit wenig mehr als einer Adresse und einer Telefonnummer, einige wenige private Homepages mit schauerlicher Typografie und Fotos des stolzen Besitzers und seiner Familie im Urlaub in Florida. Bis heute berühmt ist die »Trojan Room Coffee Cam«, die Wissenschaftler an der University of Cambridge installiert hatten, um jederzeit den Füllstand ihrer Kaffeemaschine in der institutseigenen Küche kontrollieren zu können. Weil die Live-Bilder des Brühautomaten über das WWW transportiert wurden, konnte sie ab 1993 jeder Internetnutzer sehen, und sehr viele nutzen diese Gelegenheit. 2,4 Millionen insgesamt, von 1993 bis 2001. Und da die »Coffee Cam« das vermutlich erste Live-Bild des WWW war, kamen Besucher aus aller Welt vorbei. Manche beschwerten sich über mangelnde Sichtbarkeit, sodass die Erfinder der Kaffeekamera schließlich folgende Botschaft auf der Seite hinterließen: »Das Licht im Trojan Room ist nicht immer eingeschaltet, aber wir bemühen uns, eine kleine, auf die Kanne gerichtete Lampe anzulassen, sodass man sie auch nachts sehen kann.« Als die Kamera im Jahr 2001 endgültig abgeschaltet werden sollte, berichteten der britische »Guardian«, die Londoner »Times« und sogar die »Washington Post«. SPIEGEL ONLINE ersteigerte die berühmte Kaffeemaschine schließlich für über 10 000 D-Mark, um sie für die Nachwelt zu retten. Im frühen WWW war die reine Machbarkeit interessant genug, um einen Kult auszulösen. Wirklich motivierend war für Nicht-Techniker aber vor allem die Möglichkeit der Kommunikation, und die erhielt durch die E-Mails Flügel.
    Mein aus den USA stammender Wohnheim-Mitbewohner Ezra vermittelte mir eine elektronische Brieffreundschaft mit einer Bekannten an seiner Heimatuniversität, einer angehenden Schriftstellerin mit unbegrenztem Mitteilungsdrang und abseitigem Humor. Wir entwickelten schnell einen Kommunikationsstil, der von immer zotigeren Einlassungen und Witzen geprägt war. Wir schrieben einander Dinge, die man niemandem ins Gesicht sagen würde, und amüsierten uns bestens. Als wir uns viele Monate später tatsächlich persönlich begegneten, gingen wir miteinander um wie alte Freunde. Schließlich hatten wir jedes denkbare Tabu schon gemeinsam gebrochen, wenn auch nur schriftlich und im Spaß.

Keine Exhibitionisten, nirgends
     
    Die Internetznutzung derjenigen, die mit diesem Medium wirklich aufgewachsen sind, der heute 15- oder 20-Jährigen, entspricht dem, was wir damals erlebten, noch ziemlich genau. Natürlich kaufen die Jungen heute außerdem online ein, verschaffen sich Musik- oder Filmdateien, lesen Nachrichten oder suchen sich Unterhaltung im Netz. Primär aber nutzen auch sie das Internet als Kommunikationsmedium: Sie besprechen die Party der vergangenen Nacht, die Chancen, bei Christiane doch noch zu landen, die neue Platte von Danger Mouse oder die Planung für Freitagabend. Es gehört zu den weit verbreiteten Missverständnissen über die habituellen Internetnutzer von heute, dass sie ihr Privatleben wahllos vor jedermann ausbreiten und ständig Kontakte zu Menschen pflegen, denen sie noch nie begegnet sind. Das Gegenteil ist richtig.
    Als das Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg im Jahr 2009 eine repräsentative Studie mit dem Titel »Heranwachsen mit dem Social Web« veröffentlichte, sorgte das zunächst für relativ wenig mediale Aufmerksamkeit. Dabei entkräftete die Studie im Handstreich nahezu jedes Vorurteil, das die kulturpessimistischen Kritiker des Internets ein ums andere Mal ins Feld führen – Vereinzelung, Aushöhlung »echter« Beziehungen, wachsender »Autismus«. Zitat aus dem Studienbericht: »Während in der Frühzeit der

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